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Bernd Balg: Bildung - (nicht nur) zeitgemäß

 

Was heute unter Bildung verstanden wird, hat der frz. Philosoph Lyotard bereits 1981 in seinem Essay über das postmodere Wissen formuliert:

Das alte Prinzip, wonach der Wissenserwerb unauflösbar mit der Bildung (im Original deutsch) des Geistes und selbst der Person verbunden ist, verfällt mehr und mehr. Die Beziehung der Lieferanten und Benutzer der Erkenntnis zu dieser strebt und wird danach streben, sich in der Form darzustellen, die das Verhältnis der Produzenten und Konsumenten von Waren zu diesen auszeichnet: die Wertform. Das Wissen ist und wird für seinen Verkauf geschaffen werden, und es wird für seine Verwertung in einer neuen Produktion konsumiert und konsumiert werden: in beiden Fällen, um getauscht zu werden. Es hört auf sein eigener Zweck zu sein, es verliert seinen Gebrauchswert. Man weiß, dass das Wissen in den letzten Dezennien zur prinzipiellen Produktivkraft wurde. (24)

Lyotard verwendet nicht zufällig Kategorien der Ökonomie zur Analyse eines Begriffs, der mit vielem Anderen, nur nicht mit Funktionalität und Verkauf zu tun hat Die Einheit von Wissen und Bildung, wobei Wissen im Dienste der Bildung zu stehen hat, wurde aufgelöst zugunsten eines zwar Bildung genannten Wissens, aber unter Beseitigung dessen, was Bildung ursprünglich sein wollte, wie Lyotard richtig bemerkt: Bildung des Geistes und der Person. Lyotard verwendet den Begriff Bildung im Original auf Deutsch, weil dort Prozesscharakter (Geist und Person bilden) und Zielsetzung (nach einem Bild, d.h. nach einer Idee, wie der Mensch sei) besonders schön zum Ausdruck kommen. Lyotards Diagnose ist radikal: Bildung verschwindet mehr und mehr, und sie ist auch nicht mehr vorgesehen in einer technologisch-informatitisierten Gesellschaft, in der man keine Gelehrten, Techniker und Apparate kauft, um die Wahrheit zu erfahren, sondern um die Macht zu erweitern (135) Wissen dient nur noch der Performativität, dem Erfolg. Wissen ist noch nicht einmal mehr Selbstzweck des ehrgeizigen Menschen (zwar weiß ich viel, doch will ich alles wissen!), es ist nur ausgerichtet auf materielle und machtbezogene Zielsetzungen, und deshalb austauschbar, ersetzbar, es hat keinen anderen Zweck als zu reüssieren.

Auch wenn wir in der Analyse nicht so weit gehen wollen wie Lyotard, so sind wir gerade in unserem Beruf als Lehrer ständig konfrontiert mit Wissensabfragen und Gedächtnisakrobatik einerseits und bisweilen schon grotesken Begriffsverunstaltungen wie Sprechkultur, Fragekultur, Aufgabenkultur, Bildungsstandards, Items, Operatoren...

Ich möchte im Folgenden den Bildungsbegriff vorstellen, von dem sich das Konzept unserer Kulturkunde leiten lässt. Welche Idee, welches Bild vom Menschen liegt zugrunde und wie kann man sich den Prozess vorstellen, in dem sich dieses Bild bewegt?

(Hinweis: Grundlegendes zum Konzept des Faches "Kulturkunde" finden Sie unter:

http://www.gak-speyer.de/kulturkunde/body_kulturkunde.htm

Wenn Bildung genauer bestimmt werden soll, greift man gerne auf die Aufklärung und Kant zurück. Es überrascht, dass ein Begriff „Bildung" bei Kant nicht zu finden ist. Natürlich kennen wir alle die Sapere-aude-Schrift aus dem Jahre 1784 mit ihrer Aufforderung sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, um mündig zu werden. Und sicherlich ist der Gedanke, Bildung habe etwas mit Mündigkeit zu tun, nicht von der Hand zu weisen. Interessanterweise verwendet Kant ein Jahr später, in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" den lateinischen Begriff „cultura", wenn er von Mündigwerden spricht:

Der Anbau (cultura) seiner Naturkräfte (Geistes-, Seelen- und Leibeskräfte) als Mittel zu allerlei möglichen Zwecken ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst. Der Mensch ist es sich selbst (als einem Vernunftwesen) schuldig, die Naturanlage und (die) Vermögen, von denen seine Vernunft dereinst Gebrauch machen kann, nicht unbenutzt und gleichsam rosten zu lassen, sondern ..., weil er als ein Wesen, das der Zwecke ... fähig ist, den Gebrauch seiner Kräfte nicht bloß dem Instinkt der Natur, sondern der Freiheit, mit der er dieses Maß bestimmt, zu verdanken haben muss. (Met. Sitten, §19)

Der planmäßige Anbau und die Pflege der individuellen Talente (das Lateinische cultura heißt nicht nur „Anbau", sondern auch „Anpflanzung, Bearbeitung, Ackerbau"), damit sie in rechter Weise von der Vernunft verwendet werden können, ist eine Pflicht ‚d.h. die Kultivierung der natürlichen Anlagen gehört zur selbstbestimmten Zwecksetzung des menschlichen Daseins. Er kann seine Begabungen nicht einfach einer natürlichen Entwicklung überlassen, sondern er ist es sich als Mensch schuldig, an seinen Talenten zu arbeiten, damit dereinst die Vernunft von diesen Gebrauch machen kann. Nun stellt sich die Frage, wer das sein soll, der diese Pflicht zur Kultivierung der Anlagen übernehmen soll. Es wäre selbstwidersprüchlich, wenn die zum Vernunftgebrauch fähige Person dieselbe ist, die die Pflicht der Kultivierung der Begabungen von sich aus einsieht und vornimmt. Denn woher nähme sie die Einsicht in den Pflichtcharakter ihres Handelns? Es dürfte keine Überinterpretation sein, wenn wir uns hier als Lehrer angesprochen fühlen.

Wenn ich richtig sehe, hat Kant seine Aufklärungsschrift von 1784 durch diese Ausführungen entscheidend ergänzt. Der Mut zum Mündigwerden ist wohl insbesondere als Aufforderung zur grundsätzlichen Bereitschaft zu verstehen, in einen Prozess einzutreten, in dem Bildung eingeleitet wird. Nach einer bestimmten Zeit erfolgreicher Kultivierung (dereinst) soll dieser Prozess vom Individuum eigenständig übernommen und weiter geführt werden. Alles zusammen aber gilt als Bildung.

Ein weiteres wichtiges Element des kantischen Bildungsgedankens in der Aufklärungsschrift von 1784 ist die Frage: Wogegen wendet sich das Mündigwerden? Wovon soll eine Loslösung stattfinden? Wir hören kurz in die Aufklärungsschrift hinein:

Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, so brauche ich mich ja selbst nicht zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann.

Selbständig denken bedeutet ein Loslösen und Abschiednehmen von Autoritäten, nicht nur von denen des Alltags, sondern auch von den anderen, den selbst ernannten oder gar den von Gott eingesetzten. Kant gab dem bislang nur juristisch verstandenen Begriff der Mündigkeit eine völlig neue Dimension. Zusammen mit dem Cultura-Gedanken bedeutet Mündigkeit somit nicht mehr einen Zustand, der von den Vormündern als juristischer Akt der Freisprechung zur wirtschaftlichen Selbstständigkeit gesetzt wird, sondern Mündigkeit meint einen Prozess, in dem und durch den das Individuum sich selbst frei setzt und autorisiert zu Selbständigkeit durch die autonome Vernunft. Nichts anderes meint der kantische Freiheitsbegriff.

Die Kritik der A u t o r i t ä t e n und die Loslösung von ihnen, hat aber noch eine andere Stoßrichtung. Es geht auch um die Kritik und Hinterfragung von T r a d i t i o n, also von Geschichte und Vergangenheit überhaupt, die auch deshalb Autorität beanspruchen, weil sie geworden und da sind. Ablehnung also von Autorität als Macht des Faktischen. Die Kritik an dieser Metaphysik des Faktischen gehört zum Prozess des Mündigwerdens und sie erfolgt mit Hilfe des apriorischen, im Menschen verankerten Vernunftvermögens, das unabhängig von Erfahrung arbeitet und deshalb auch nicht den Einflüssen von Tradition und gesellschaftlichem Konsens unterliegt. Kant sagt das so: (wiederum in der Metaphysik der Sitten (§19))

Geisteskräfte sind diejenigen, deren Ausübung nur durch die Vernunft möglich ist. Sie sind sofern schöpferisch, als Gebrauch nicht aus Erfahrung geschöpft, sondern a priori aus Prinzipien abgeleitet wird.

Mit diesem Instrument kann nicht nur gesetzte persönliche oder institutionelle Autorität destruiert werden, sondern die Vergangenheit schlechthin. Wahr ist also nicht das, was geworden ist, sondern was vor der reinen Vernunft bestehen kann.

Diese Radikalkritik an Tradition und Autorität hatte einerseits eine unglaublich befreiende Wirkung, denn was kann spontan mehr begeistern als der Ruf nach Bildung als Emanzipation, als Abschneiden der alten Zöpfe! Andrerseits lauert in diesem Impetus die Gefahr der individuellen Bodenlosigkeit.

Der Philosoph Hans-Georg Gadamer schreibt dazu in seinem Hauptwerk (Wahrheit und

Methode):

Nun ist die allgemeine Tendenz der Aufklärung, keine Autorität gelten zu lassen und alles vor dem Richterstuhl der Vernunft zu entscheiden. So kann auch die schriftliche Überlieferung, die Heilige Schrift, wie alle andere historische Kunde, nicht schlechthin gelten, vielmehr hängt die mögliche Wahrheit der Überlieferung von der Glaubwürdigkeit ab, die ihr von der Vernunft zugebilligt wird. Nicht Überlieferung, sondern die Vernunft stellt die letzte Quelle aller Autorität dar. Was geschrieben steht, braucht nicht wahr zu sein. Wir können es besser wissen. (277)

Gadamer kritisiert die Vorstellung einer ungeschichtlichen, erfahrungsfreien und formal antiautoritären Vernunft und sieht darin die Etablierung einer neuerlichen, unhintergehbaren und nur nach logischen Kriterien überprüfbaren Autorität von Wahrheit: die Autorität einer geschichtslosen und vorurteilsfreien Vernunft. Bekanntlich versteht Gadamer all das, was unsere Vernunft in ihre Entscheidungen mit einbringt als Vorurteil. Das Eingebundensein in Welt und ihre Menschen sowohl, als auch das Zugehörigsein zu Tradition und Vergangenheit sind für Gadamer unvermeidbare Vorurteile. Diese sind zwar im Einzelnen korrigierbar, aber nicht als Vorurteile selbst. Deshalb kann Gadamer den Gedanken einer vorurteilsfreien, nur logisch arbeitenden Vernunft nicht teilen, da jeder Gedanke in einem inhaltlichen Beziehungskosmos stattfindet, zwar logisch geordnet, aber weder erfahrungsfrei noch gar ungeschichtlich. Ähnlich argumentiert Gadamer bei der These der Kritik der Autoritäten. Diese sind nicht schon deshalb abzulehnen, weil sie Autoritäten sind oder aber Autorität verliehen bekommen haben, vielmehr muss damit gerechnet werden, dass Autorität auch sinnvoll ist und zu Recht besteht. Wer diesen Gedanken ablehnt, kann selbst keine Autorität mehr beanspruchen, auch nicht die Autorität der Vernunft, es sei denn auf Kosten der Selbstwidersprüchlichkeit und damit letztlich auf Kosten der Autorität der logischen Vernunft.

Nun wissen wir, dass Kant die reine Vernunft der praktischen Vernunft unterstellt hat, d.h. dem Sittengesetz und dem kategorischem Imperativ. Er hat die unhistorische, reine Vernunft einer anderen, allerdings auch zeitlosen Vernunft unterstellt, der reinen Moralität. Die Kritik an der unhistorischen Vernunft, die Gadamer Kant gegenüber formuliert, bleibt somit bestehen.

Es wäre natürlich selbst ein unhistorisches Verfahren, wollte man Kants Verdienste im Kampf gegen Absolutismus und für die Würde des sich selbst bestimmenden Individuums auf die oben beschriebene Weise aufheben wollen. Das tut auch Gadamer selbstverständlich nicht. Im Gegenteil, er hebt Kants Leistungen ausdrücklich hervor. Und für unsere Suche nach einem Bildungsbegriff ist der Gedanke der selbstbestimmbaren Mündigkeit unverzichtbar. Tatsache ist aber auch, dass die Idee einer unhistorischen Vernunft insbesondere heute von außerordentlicher Bedeutung ist (siehe Lyotard), freilich ohne die von Kant vorgenommene Unterordnung unter eine unbedingte Moral. Gerade wir Heutigen können sehen, was eine Selbstermächtigung der Vernunft im Gestus der Emanzipation von allem, was nicht jetzig und modern ist, bedeutet. Die Verkündigung vom Ende der Geschichte (Francis Fukuyama, kürzlich allerdings wieder zurück genommen) und dem Anbruch einer ewigen Gegenwärtigkeit sind die hybriden Slogans unserer technisch-ökonomischen Welt. Das hat natürlich überhaupt keinen Grund in Kants Würdigung des Menschen als eines selbst bestimmten und mit Moralität erfüllten Individuums.

Es war Johann Gottlieb Fichte, der am Anfang des 19. Jhs. in Berlin mit seinen vierzehn „Reden an die Deutsche Nation" (1807/08) eine individuelle und nationale Bildungswelle als Widerstand zur napoleonischen Besatzung initiieren wollte.

Wenn man so will, wurde mit diesen Reden eine Grundlegung der deutschen Nation vorgenommen. Für uns interessant ist hier weniger Fichtes Abrechnung mit dem aufgeklärten Absolutismus als vielmehr die Idee der Nation als Kulturnation und als Versöhnung des mannigfachen individuellen Eigensinns mit einem die Einzelnen übersteigenden gemeinsamen Wollen. Diesen geistigen Verbund verstand er als Nation. Zentral war dabei die Wiederentdeckung des Historischen, nicht deren zufällig gewordenen Machtgebilde, sondern eine alles umfassende Geschichtlichkeit, in die Individuum, Sitten und Volk eingebunden sind. Das Präfix „Ur" ist den dabei verwendeten Wortgebilden eigentümlich: Ur-geschichte, Ur-volk, Ur-sprache. Wir brauchen dabei nicht länger zu verweilen: dieses Mystische und Raunende, das dann auch Teil der Romantik wurde (ich verweise auf das Geschichtsverständnis von Novalis), war das absolute Gegenteil dessen, was Kant oder die Aufklärung wollten. Aber es brachte eine Korrektur der Verabschiedung aus Geschichtlichkeit und Tradition. Welche Gefahren und Auswüchse damit verbunden sind, wenn sich Nationen mit sogenannten urgeschichtlichen Legitimationen versehen, wissen wir aus der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.

Für unsere Suche nach einem tragfähigen Bildungsbegriff ergibt sich aber die Ergänzung des Gedankens der selbstbestimmten Mündigkeit mit dem Element des Geschichtlichen. Gadamer, dem wir weiter folgen wollen, drückt das so aus:

In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören der Geschichte. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbestimmung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. (281)

Ganz offensichtlich versucht Gadamer eine Synthese zu formulieren, die zwar die Geschichtlichkeit bevorzugt, aber die Subjektivität nicht ausschaltet. Wir werden, so ist wohl sein Gedankengang, in Familie, Gesellschaft und Staat hinein geboren, werden eingebettet in diesen historischen Energiekreis und von seinen Instituten geprägt. Aber durch unser Bewusstwerden dieses Eingebettetseins, durch unser Miteinandersein in Gespräch und Tat, kommt es zum ‘Flackern‘, d.h. doch wohl zu Unterbrechungen des Stromkreises. Und diese Unterbrechungen können wir als Momente des Bildungsprozesses verstehen. Gadamer sagt dazu:

Die Wirklichkeit der Sitten z.B. ist und bleibt in weitem Umfange eine Geltung aus Herkommen und Überlieferung. Sie werden in Freiheit übernommen, aber keineswegs aus freier Einsicht geschaffen oder in ihrer Geltung begründet...

Alle Erziehung beruht darauf und wenn auch im Falle der Erziehung der ‘Vormund‘ mit der Reife der Mündigkeit seine Funktion verliert und die eigene Einsicht und Entscheidung an die Stelle der Autorität der Erzieher tritt, so bedeutet dieser Eintritt in die lebensgeschichtliche Reife noch keineswegs, dass einer in dem Sinne Herr seiner selbst wird, dass er von allem Herkommen und aller Überlieferung frei würde. Das ist es, was wir Tradition nennen: ohne Begründung zu gelten... Wir verdanken in der Tat der Romantik diese Berichtigung der Aufklärung, dass außerhalb der Vernunftgründe auch Tradition ein Recht behält und in weitem Maße unsere Einrichtungen und Verhalten bestimmt. (285

Hier wird ganz deutlich, wie Bildung als ein Erziehungsprozess verstanden wird, in dem die Freiheit des mündigen Individuums sich in der Beschäftigung mit seiner geistig-geschichtlichen Herkunft vollzieht und die Gültigkeit von Tradition nicht aus einer

Vernunftsetzung abgeleitet wird, sondern für sich selbst Gültigkeit besitzt. Mit diesem

Rechtsanspruch gilt es in Dialog zu treten. Dazu aber muss der Anspruch auf Geltung der

Tradition allerdings erst richtig verstanden sein.

Das Verstehen der Verbindung von emanzipativer Individualität und Eingebundensein in geschichtliche Kultur einerseits und das Gespräch mit dieser Kultur hat Gadamer im Anschluss an Schleiermacher und Dilthey zu einer eigenen Disziplin ausgearbeitet. Es handelt sich um seine philosophisch-historische H e r m e n e u t i k. Hermeneutik ist keine Methode, die willkürlich oder selektiv angewendet oder auch nicht angewendet werden könnte, sondern Hermeneutik ist die Art und Weise, wie sich der Mensch überhaupt verstehen kann, d.h. es geht ihr um Wahrheit. Diese Wahrheit beruht auf Erfahrungsweisen, die nicht mit den methodischen der Wissenschaft verifiziert werden können (2), also auf keinem Fall mit naturwissenschaftlichen Methoden. Hermeneutik ist also ein nicht-empirisches Verfahren, das sich auf Leben ‚d.h. auf existentielle Wirklichkeit bezieht. Wahrheit ist nicht mehr im Sinne von richtig oder falsch, bzw. intersubjektiv überprüfbar zu verstehen, sondern als unsere historische Existenz betreffend, betroffen machend. Ihr Maßstab kann nicht ein zeitgenössisches Bewusstsein, gar ein Zeitgeist sein. Historische- kulturelle Wahrheit kann nicht durch Gegenwartsbezug aufgelöst werden.

Zugegeben: Vielleicht betont Gadamer die Tradition zu stark und setzt die Möglichkeit einer k r i t i s c h e n Teilhabe an dieser kulturellen Wohngemeinschaft als zu schwach an. Dennoch bleibt für unseren Bildungsbegriff der Ansatz einer historisch ausgewiesenen Vernunft unverzichtbar. Und als diese hat sie die Pflicht zu einem ununterbrochenen Dialog mit Tradition, in dem sie diese staunend akzeptieren, aber auch zutiefst verabscheuen kann. Aber kein Dialog kann Tradition auflösen. Es geht in diesem Dialog nicht um Erkenntnis und Wissen im Sinne einer Trennung von Subjekt und Objekt, d.h. um die Trennung von zum Objekt gewordenem Gegenstand und souveränem erkennendem Subjekt. Es geht aber auch nicht um ein selbstvergessenes Aufgehen in Geschichte und Tradition. Es geht um die Haltung einer Offenheit, sich auf etwas einzulassen, das zu uns gehört, unabhängig davon, ob wir das wollen oder nicht. In dieser Haltung, sich etwas widerfahren zu lassen, wie wir das ja auch in einem guten Gespräch tun, zeigt sich dann die Bedeutung des Vergangenen für das Verstehen des Heute. Gegenwart kann nicht durch Gegenwart oder aus ihr verstanden werden, es sei denn als bloß technisch-ökonomisches Objekt und im Sinne materieller Machbarkeit. Die Ergebnisse und Folgen sind gerade in unseren Tagen offensichtlich. Im Verzicht auf das Hinhören auf Geschichte und Kultur oder gar in der Behauptung, Vergangenes sei nur dann interessant, wenn es für Gegenwart und Zukunft benutzt werden könne, zeigt sich die Arroganz der Gegenwart, freilich auch ihre unglaubliche Naivität

Unsere Suche nach einem vernünftigen Bildungsbegriff hat ergeben:

Bildung ist kein ungeschichtliches Sichselbstwissen. Sie ist auch nicht ein raunendes Aufgehen in einer mytisch-mystischen Geschichte, auch nicht ein affirmativer Rückzug in die Welt der Antike oder des deutschen Idealismus.

Bildung ist der Prozess des Sicheinlassens auf das im prägnanten Sinn des Wortes Vorgegebene. Bildung ist ein ununterbrochener Dialog. So gesehen ist Bildung Mündigwerden.

Im Fremden das Eigene zu erkennen, in ihm heimisch zu werden, ist die Grundbewegung des Geistes. Jedes einzelne Individuum, das sich aus seinem Naturwesen ins Geistige erhebt, findet in Sprache, Sitte und den Einrichtungen seiner Kultur eine vorgegebenen Substanz, die es zur seinigen zu machen hat. So ist das einzelne Individuum immer schon auf dem Wege der Bildung und immer schon dabei, seine Natürlichkeit aufzuheben, sofern die. Welt, in die es hinein wächst, eine in Sprache und Sitte menschlich gebildete ist. (19/20)