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Grundsätzliches Zum Erörtern 1 Zum Begriff: "Erörtern" kann Vieles und viel Unterschiedliches bedeuten. Es kann bedeuten: - einen Sachverhalt durchdenken; - eine Position darlegen; - einen Standpunkt begründen; - eine Warum-Frage ausführlich beantworten; - zwei gegensätzliche Standpunkte zu einem Problem darstellen und ihre Begründung vergleichend nebeneinander halten; - sich mit einem Problem auseinandersetzen und eine vernünftige Lösung suchen; - sich zwischen mehreren Möglichkeiten entscheiden und die Entscheidung plausibel begründen; - zwischen auseiander liegenden Positionen vermitteln und vernünftige Kompromisse suchen und begründen. Es lassen sich bestimmt noch weitere Bedeutungen und Bedeutungsnuancen finden. Ich möchte hier zunächst einmal einhalten und feststellen: Mögen sich die einzelnen Bedeutungen auch im Detail voneinander unterschieden, mögen auch die durch das Wort "Erörtern" bezeichneten Tätigkeiten noch so verschieden sein: Einiges haben alle Bedeutungen gemeinsam, einiges tritt immer wieder auf und bestimmt die jeweilige Tätigkeit wesentlich mit. Solche Gemeinsamkeiten wären u.a.: a) Beim Erörtern hat man es mit Sachverhalten, Problemen, Entscheidungen, Zuständen usw. zu tun, die nicht von vorn herein klar und für alle einsichtig sind. So setzt sich z.B. die Erörterung einer Sachlage zum Ziel, möglichst umfassend und geordnet die Aspekte bewusst zu machen und darzustellen, die bei dem in frage stehenden Sachverhalt zu beachten sind. b) Beim Erörtern steht in aller Regel das Nachdenken im Mittelpunkt. Dieses Nachdenken kann sich niederschlagen im allgemeinen Formulieren von konkreten Einzelheiten, im Darstellen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden, in der Darstellung von Beziehungen zwischen einzelnen Aspekten usw. c) Immer spielt das Ordnen und Einordnen eine wichtige Rolle. Dabei wird das Erkennen von Gemeinsamkeiten vorausgesetzt, Zusammengehörendes wird unter übergeordneten Gesichtspunkten zusammengefasst. Wichtiges wird gegenüber weniger Wichtigem in eine bestimmte Reihenfolge gebracht. d) In den meisten Fällen, in denen von Erörtern die Rede ist, spielt das sach- und situationsgerechte Begründen die wichtigste Rolle. Dabei geht es neben dem richtigen Formulieren von Gründen auch um das Abstützen und Belegen einer Begründung, um das Entwickeln einer nachvollziehbaren Argumentationskette und um das Einbeziehen von Gegengründen. Die verschiedenen Inhalte des Begriffs haben nun auch zu verschiedenen Text- und damit auch zu verschiedenen "Schulaufsatz-Formen geführt, die sich uns als Möglichkeiten anbieten, die einzelnen Absichten besonders übersichtlich zu verwirklichen. Versuchen wir aber zunächst den Begriff "Erörterung" unter Einbeziehung wichtiger bisher genannter Aspekte und der Funktion der gemeinten "Sache" zu definieren, so könnte sic h ergeben: "Erörterung" ist die Form sprachlicher Auseinandersetzung mit einer Sache, einem Zustand, einem Verhalten oder einer Theorie, die aufgrund der individuellen Lebenserfahrung, wissenschaftlicher Untersuchungen und/ oder statistischen Materials, insgesamt also aus einer Sachkenntnis heraus und gleichzeitig "interessiert" mithilfe des folgerichtig denkenden Verstandes unter Anwendung entsprechender formaler Strategien eine Lösung anstrebt. Dabei ist der Begriff "Lösung" sehr weit aufzufassen. Er reicht vom Verstehen eines komplexen Zusammenhangs bis zur Beseitigung eines Konflikts. 2 Ziele des Unterrichts Es soll nun versucht werden, erste allgemeingültige übergreifende Ziele des Unterrichts zu formulieren, die im Rahmen und unter dem Stichwort "Erörterung" angestrebt werden sollten. 1) Die Schüler lernen, Sprache als Mittel der Problemanalyse und der Problemlösung einzusetzen. a) Tatbestände müssen sachgerecht verbalisiert werden. b) Problemaspekte müssen herausgelöst und beschrieben werden. c) Interessenslagen, die in Konflikt geraten, können als solche identifiziert werden. d) Eine Einsicht in logische Zusammenhänge sollte vermittelt werden. e) Die Sprache wird als Zeichensystem erkannt, d.h.: Es wird bewusst, dass eine in der Sprache umrissene Lösung noch nicht bedeutet, das Problem sei auch in der Wirklichkeit gelöst. Andererseits aber erlaubt es eine solche "zeichenhafte" Lösung, einen Konflikt "unblutig" einer Lösung zuzuführen. 2) Der Schüler lernt, sein Handeln rational zu durchdringen und zurechtfertigen. a) Entscheidungen, Werturteile usw. rational zu planen und vorzubereiten und dabei den Gesetzen der Logik zu folgen. b) Entscheidungen und Urteile müssen in Einklang mit dem verarbeiteten Material stehen. c) Ehe geurteilt wird, müssen Sachfragen geklärt sein. d) Das Urteil muss an der Realität überprüft werden. e) Die Konsequenzen, die sich aus einer Entscheidung ergeben, müssen mitbedacht werden. 3) Der Schüler lernt, sich sachgerecht mit Problemen, Konzepten, Personen und Personengruppen auseinanderzusetzen. a) Er lernt, Strategien zu entwickeln, ein vorgegebenes Problem zu lösen. b) Er erwirbt die Fähigkeit, sinnvolle und fruchtbare Fragen zustellen. c) Er lernt zu abstrahieren, d.h. mehrere Beispiele auf einen "Begriff" zu bringen. d) Erlernt, sachgerecht Argumentationsreihen aufzubauen. e) Er erwirbt die Fähigkeit, einen Standpunkt zu begründen und die Begründung wirkungsvoll vorzutragen. 4) Der Schüler setzt sich mit Problemen auseinander, die ihn gegenwärtig betreffen oder in Zukunft betreffen könnten. Die hier angesprochene inhaltliche Ebene scheint mir besonders wichtig. Zwar wird es immer auch um die Weltordnung gehen. In erster Linie aber sollte dem Schüler Gelegenheit gegeben werden, sich mit der Schul- und Hausordnung auseinaderzusetzen, denn diese betreffen ihn unmittelbar. a) Der Unterricht wird zweckmäßigerweise ausgehen von Fragen, die die Schüler direkt angehen, von Problemen, mit denen er sich gegenwärtig auseinandersetzen muss, von Zusammenhängen, die durchdacht werden sollten. b) Auch bei später zu behandelnden "allgemein menschlichen" Fragen ist immer darauf zu achten, dass alle Aussagen durch Erfahrung bzw. durch gesichertes Material abgedeckt sind. Das "tua res agitur" darf auch bei Fragen der Weltordnung niemals aus den Augen verloren werden. Nur so lässt sich eine Anhäufung von Gemeinplätzen vermeiden. c) Grundsätzlich ist zu beachten: Vom Schüler gefundene Lösungen müssen nicht im Einklang mit den Ansichten des Lehrers stehen, wiewohl der Lehrer nicht verhehlen sollte, dass auch er eine eigene Ansicht hat.
3 Einige Hinweise zur Stufenfolge der Ein- und Hinführung Die Behauptung, der Schüler der Unter- und Mittelstufe sei nicht in der Lage zu abstrahieren, ernsthaft zu diskutieren, ist inzwischen wohl widerlegt. Sie scheint mir angesichts der Abstraktionsleistungen beim Spracherwerb doch zumindest überprüfenswert. a) Wir machen alle die Erfahrung, dass Schüler im 5. Schuljahr sehr wohl in der Lage sind, ihre Probleme zumindest in Ansätzen zu diskutieren und auch gelegentlich etwas komplexere Zusammenhänge darzulegen. Allerdings müssen wir doch unterscheiden zwischen dem, was im Gespräch möglich ist, und dem, was in der schriftlichen Form erwartet werden kann. Es ist nicht immer besonders günstig, vom Mündlichen zum Schriftlichen zu gehen, von der Diskussion zur schriftlichen Erörterung zu führen. Das könnte gelegentlich gewaltig in die Irre führen, da eben das schriftliche Erörtern schon in der Abfolge der Gedankenführung anderen Gesetzen folgt als die mündliche Auseinadersetzung. b) Wenn wir uns der schriftlichen Form des Erörterns zuwenden, werden wir als einfachste Form die "lineare" Erörterung, die Darlegung und die begründende Erörterung ausmachen. Eine Warum-Frage soll nicht nur durch ein einfaches "Weil" sondern durch die Darlegung von Gründen und/oder Ursachen beantwortet werden. Als schriftliche Form könnte dies ab der 7. Klasse möglich sein. c) In einer ersten Steigerung werden dann mögliche Gegengründe aufgenommen. Sie er halten zwar noch nicht so viel Gewicht, bedingt durch die Thema-Formulierung; wir fragen etwa: "Warum ich einer Jugendgruppe beigetreten bin.", müssen aber doch beachtet werden. Bei einer solchen Aufnahme von Gegengründen wird bereits eine erste Wertung, eine erste Gewichtung verlangt. d) Spätestens im 9. Schuljahr erscheint die Entscheidungsfrage als schriftliche Form des Erörterns. Hier wird die Darlegung von zwei Argumentationsreihen sowie ein Abwägen der Argumente verlangt, d.h. ein Fazit, eine Entscheidung, die sich auf die eine oder andere Argumentation stützt. Es wird dadurch eine zunächst subjektive Entscheidung der objektiven Kritik, der Überprüfung also zugänglich gemacht. e) Im zehnten Schuljahr wird man sich etwas intensiver mit der Begriffsklärung beschäftigen und die Thematik aus dem neunten Schuljahr aufgreifen und ausweiten. Das Für und Wider einer Sache wird sorgfältig begründet und mit Material belegt. f) Schließlich lässt sich auch der so genannte "dialektische Besinnungsaufsatz" anschließen. Vielleicht sollte man aber d och zunächst etwas bescheidener sein und zunächst nur von einer "Erörterung mit dem Ziel eines Kompromisses sprechen. Ob eine echte dialektische Lösung von echten Problemen von Schülern verlangt werden kann, wage ich nicht zu entscheiden. Man sollte aber nicht eine billige "Sowohl als auch - Lösung" schon als dialektische Lösung ausgeben.
Zur Frage der Situierung Um Probleme, die sich ergeben im Zusammenhang mit der Situierung, bewusst zu machen, möchte ich einige Aspekte eines Modells vorstellen: Vorbemerkungen zur SituationDie Situation in der späten Mittelstufe stellt sich für den Deutschlehrer vor allem nicht ganz einfach dar. Zum einen wird von ihm erwartet, dass er alle Versäumnisse der übrigen Fächer soweit es eben geht, ausgleicht (Immer wieder hören wir: "Ja, wenn er sich wenigstens richtig ausdrücken könnte!" und damit hat dann der Deutschlehrer den Schwarzen Peter.) Zum andern wird besonders vom Deutschunterricht erwartet, dass er den Schüler "fürs Leben" ausbildet und für sein künftiges Leben gezielt vorbereitet. Das bedeutet nun aber ganz Verschiedenes: a) Im Literaturunterricht soll der Schüler mit Problemen seines künftigen Erwachsenendaseins konfrontiert werden. b) Der Schüler soll, sofern das in seinem Alter überhaupt möglich ist, ästhetisch sensibilisiert werden. c) Er soll kulturgeschichtliche Kenntnisse erwerben und sich mit der eigenen Kultur auseinandersetzen. d) Er soll lernen, sich mit Problemen seiner konkreten Gegenwart zu beschäftigen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, sie auch vielleicht zu lösen oder zumindest eine vielleicht verbale Lösung anzustreben. e) Er soll lernen, mit Textarten und Texten fertig zu werden, wie sie sein späteres Berufsleben möglicherweise erfordert. Das reicht dann vom Bericht über das Protokoll bis hin zur sachgerechten Erläuterung oder Definition. f) Nicht zuletzt soll er dann auch mit ganz bestimmten Anforderungen vertraut gemacht werden, wie sie sein künftiger Beruf an ihn stellen wird. Auch das reicht nun wieder von der Bewerbung über den Lebenslauf bis hin zum Geschäftsbrief. Selbstverständlich erwartet man vom Deutschunterricht auch, dass er sich mit allen gerade anfallenden täglichen Problemen sowohl aus der privaten wie aus der gesellschaftlichen Sphäre beschäftigt und den Schüler in die Lage versetzt, mit solchen Problemen umzugehen, vor allem aber die Probleme selbst im Unterricht zum Thema zu machen. Natürlich erwartet die Gesellschaft auch und gerade vom Deutschlehrer. dass er den Jugendlichen "erzieht", was auch immer man darunter verstehen mag. Bei so vielen Forderungen und Erwartungen laufen wir Deutschlehrer oft Gefahr, dass wir mit dem Blick auf all diese Forderungen den Schüler selbst, mit dem wir es zu tun haben, aus dem Auge verlieren. So werden dann nicht nur im Literaturunterricht entscheidende Fehler gemacht, wenn es darum geht, die richtigen Texte auszuwählen, die dem Schülerinteresse wenigstens halbwegs gerecht werden, sonder n auch und gerade im Schreibunterricht, in der Aufsatzerziehung also, wo Textarten besprochen werden, die den Schüler kaum interessieren, wobei es nur wenig Mühe bereiten würde, eine ähnliche Textart auszuwählen, die mit der außerschulischen Lebenswirklichkeit des Schülers dann doch einiges zu tun hätte. So könnte man z.B. statt der bei annähernd allen Schülern verhassten "Charakteristik" sich mit dem Portrait beschäftigen und auf einschlägige Jugendzeitschriften zugreifen, in denen sich Portraits in Hülle und Fülle finden lassen. Geht es dann gar um anspruchsvollere Textarten aus dem Bereich de Erörterns, so wird nicht selten der Fehler gemacht, dass die zu erörternden Fragen und Probleme kaum noch etwas mit der Lebenswirklichkeit des Schülers zu tun haben. So möchte ich an den Beginn der Überlegungen zur Erörterung eine didaktische Reflexion stellen, die sich zunächst einmal um einen schülerorientierten, situativen Ansatz in der Schreiberziehung bemüht. Ich werde zunächst ein kurzes Gesamtkonzept vorstellen, das Auskunft gibt über mögliche Situierungen einzelner Schreibhaltungen und Textarten, Situierungen in der schulischen wie in der außerschulischen Lebenswirklichkeit der heute noch Schüler. Freilich werden mit solchen Situierungen nicht alle von den Lehrplänen geforderten Textarten abgedeckt. Zum andern müssen wir damit rechnen, dass in einzelnen Situationen Texte gefordert sind, die zu komplex strukturiert sind, als dass wir sie direkt im Unterricht behandeln könnten. In solchen Fällen sind dann zunächst Übungsformen vorzuschalten. Auch darauf wird bei Gelegenheit genauer einzugehen sein. Schließlich sei schon jetzt darauf hingewiesen, dass sich solche Situationen nicht immer und nicht zwangsläufig ergeben. Sie sollten auch nicht "mit Gewalt" vom Zaun gebrochen werden. Wir werden immer wieder auf vorwegnehmende Simulationen angewiesen sein, wobei freilich die Verbindung zur Wirklichkeit oder doch zur möglichen Wirklichkeit stets aufrechterhalten werden muss.
Ein schülerorientiertes Gesamtkonzept: situative Schreiberziehung ab Klasse 9 (späte Mittel- und Oberstufe)
1 Grundsätzliches zum situativen AnsatzAnalog dem funktionalen Ansatz des Grammatikunterrichts soll zunächst die Frage nach der den Schüler umgebenden Wirklichkeit angegangen werden. Erst dann kann gefragt werden nach der Notwendigkeit bestimmter Textformen. Bei einer Orientierung an Problemkreisen, die den Schüler betreffen, werden sich wohl im Bereich der Textarten Überschneidungen ergeben, da die Komplexität der jeweiligen Situation bzw. des jeweiligen situativen Rahmens eine Reduktion auf eine einfache oder wenige Textarten nicht immer zulässt. Wir w erden also nie ohne Schwerpunktbildung auskommen, und es wird festzustellen sein, dass es nicht immer nur um erörternde Textarten geht. Der Vollständigkeit halber werden im Folgenden auch die anderen Textarten genannt, da -und das ist das Entscheidende bei einem solchen Ansatz! - eben die Situation und ihre Bewältigung im Vordergrund steht und nicht eine einzelne Textart. Deshalb müssen eben auch außerhalb stehende Textarten angesprochen werden, sofern wir den Ansatz ernst nehmen und ihn nicht nur als didaktisch-methodischen Trick missbrauchen wollen. Natürlich sollen auch wesentliche Bedenken, die gegenüber dem Ansatz laut werden, nicht verschwiegen werden: a) Es kann der Eindruck einer didaktischen Sandkastenspielerei entstehen, die an der lehrplanmäßig verordneten Schulalltagswirklichkeit halt doch zumindest zum Teil vorbeigeht, insofern eben von den Situationen her sich Textnotwendigkeiten ergeben, die nicht im Lehrplan zu verankern sind. b) Der Lehrer wird klar abgegrenzte, in überschaubarer Zeit, also in 6-8 Unterrichtsstunden durchführbare Sequenzen vermissen, die sich u.U. mit einem Klassenaufsatz abschließen lassen. Allerdings, das werden wir beobachten, solche Sequenzen lassen sich immer wieder abgrenzen, gerade dann, wenn es um Vorformen, um Übungsformen geht. c) Gerade erörternde Texte sind nicht immer ganz einfach vom situativen Rahmen her begründbar. Ihre Notwendigkeit ist nicht immer einsichtig zu machen. Das heißt: das Erörtern selbst als menschliche Grundhaltung des diskursiven Bedenkens wird zwar in jeder Situation notwendig, allerdings: Die Texte, d.h. das schriftliche Fixieren des Denkprozesses wie des Prozessergebnisses lässt sich nicht immer von der Situation her begründen. d)Ähnliches gilt für all die Textarten, die sich mit metasprachlichen bzw. metakommunikativen Problemen beschäftigen. Hier könnte man - zumindest auf der Studienstufe - dann allerdings den Weg der wissenschaftspropädeutischen Begründung einschlagen.
2 Zur Wirklichkeit des Schülers auf der späten Mittel- und der Studienstufe
Wenn wir ein wirklichkeitsnahes Konzept entwerfen wollen, müssen wir uns fragen, wie denn nun die Wirklichkeit des Schülers tatsächlich ausschaut. Wir können davon ausgehen, dass der Jugendliche in seinem Dasein im Wesentlichen von drei Sozialisationsfeldern mit gerprägt wird: - Familie, Elternhaus - Schule - Freundeskreis, Clique, Gruppe, Verein... (Also all diejenigen Gruppierungen, denen sich der Jugendliche in seiner Freizeit zuwendet.) Grundsätzlich bleibt zu bemerken, dass die Ablösung von der Familie und vom Elternhaus fortschreitet, dass die Schule ihre Dominanz eingebüßt hat und mehr und mehr in Frage gestellt wird und sich selbst der Kritik dies Jugendlichen stellen und ihr auch standhalten muss. Nicht genannt ist hier der Staat, da er für den Jugendlichen und seine Wirklichkeit bestenfalls in seine nicht immer nur positiven Ausformungen, d.h. in Form von Vorschriften und Verboten erfahrbar wird. Nicht genannt werden ebenfalls die Medien. Wenngleich sie einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf Sozialisation, Lebensgestaltung, Lebensentwürfe usw. ausüben, so möchte ich sie doch nicht dem Bereich der unmittelbaren Sozialisationsfelder zurechen, da der Jugendliche ihnen zwar ausgesetzt ist, aber kaum Möglichkeiten hat, sich direkt mit ihnen auseinanderzusetzen. Wo gibt es nun im Bereich der genannten drei Sozialisationsfelder Situationen, die schriftliche Äußerungen erfordern? Da im ersten Feld, der Familie also, kaum einleuchtende Begründungen für schriftlich fixierte Kommunikationsbeiträge geliefert werden können (sieht man einmal vom obligatorischen Bittbrief an die Tante ab), kann bei der Suche nach einschlägigen Problemkreisen dieses Feld wohl ganz vernachlässigt werden. Verbleiben die beiden Felder Schule und - ich verkürze einmal- der Bereich Freizeit. Welche Problembereiche sind nun innerhalb dieser Felder einerseits symptomatisch, d.h. typisch für die Jugendlichen im angesprochenen Alter? Welche Problembereiche haben also den größten "Transferwert"? und weiterhin: Welche Problembereiche sind so attraktiv, dass sie ohne allzu viele methodische und didaktische Klimmzüge die Chance einer intrinsischen Motivation und damit einer unmittelbar einsichtigen Begründung der Notwendigkeit einzelner Textarten enthalten?
2.1 Zum Bereich Schule: Verhältnis Schüler-Klasse-Schule-Lehrer
Auf der Orientierungsstufe können wir eine deutliche Identifizierung des Schülers mit seiner Schule beobachten. Nach einer ersten Eingewöhnungsphase ist es in aller Regel so, dass sich die Schüler mehr und mehr zu Hause fühlen und sich der Schule wie den Lehrern mehr oder weniger vertrauensvoll zuwenden. Mit dem 7.m8. Schuljahr setzt eine immer wieder zu beobachtende Distanzierung ein. Spätestens mit Beginn der 9.Klasse stellen wir eine ganz klare Frontstellung fest: Hier Schule, dort Schüler. Dieser "Kampf der "Tertia" bringt nun positiv aber auch eine stärkere Konsolidierung der Gruppe/Klasse -jetzt als "Schicksalsgemeinschaft- mit sich. Die wichtige Erfahrung der Solidarität, des Sich-Solidarisierens mit anderen um einer gemeinsamen Sache willen oder auch um der Person des anderen willen sollte von uns Lehrern zunächst einmal positiv gesehen werden. Wenn hier nicht die Erfahrung der Solidarität und ihrer positiven Aspekte gemacht wird, wird sie nie wieder im Leben in gleicher Eindringlichkeit gemacht werde können. Der Solidarisierung parallel verläuft nicht selten ein Prozess, den man als "Front - machen gegen..." begreifen kann. Dabei sind dann einzelne Lehrer die Opfer, gelegentlich auch das ganze Kollegium, die Schule schlechthin. Aber: in aller Regel muss der Lehrer als Gegner par excellence herhalten. Wenn dann noch ein vielleicht entwicklungsbedingtes Nachlassen der (schulischen) Leistungsbereitschaft zu beobachten ist verbunden mit der Entfaltung außerschulischer Aktivitäten, dann finden sich viele Lehrer in ihrem Vorurteil bestätigt, sie nehmen den Kampf auf und - schließlich sitzen sie am längeren Hebel, - knüppeln erbarmungslos auf die Rüpel ein, die da vor ihnen sitzen und nicht so recht wissen, wo sie mit ihren ungewohnt langen Beinen und Armen hinsollen. So kann es dann zur Eskalation von Konflikten kommen, die meist mit Gewalt, manchmal auch mit pädagogischen Tricks gelöst werden, allerdings nicht immer zum Vorteil der Schüler, die in aller Regel in der Rolle des passiven Empfängers von Anweisungen bleiben müssen. In diesen Problembereichen könnte die Schreiberziehung etwa folgende Zielbereiche ins Auge fassen: a)Problemanalyse durch Verbalisierung; b) Informationsbeschaffung und Informationsauswertung als Grundlage sachgerechter Entscheidungen und situationsadäquater Strategien; c) Sachgerechte und partnerbezogene Argumentation als Mittel bzw. Grundlage einer Durchsetzung eigener Absichten; d) Verstehen anderer; Verfolgen eigener Interessen;
2.2 Bereich Schule: aktiv mitverantworten und mitgestalten
Wenn auch die Schüler der späten Mittelstufe immer mehr auf Distanz gehen zu ihrer Schule, so können wir doch immer wieder beobachten, dass sie, werden sie einmal angesprochen, auch immer wieder bereit sind, sich aktiv für ihre Schule einzusetzen, an Projekten mitzuarbeiten, Arbeiten auch freiwillig zu übernehmen. Es wird deutlich, dass hier mehrere Aspekte thematisierbar werden. Aus Gründen der Motivation könnte man sich auf das eine oder andere Projekt konzentrieren (Schulzeitung; Patenschaft für Orientierungsstufenklassen, soziale Aktionen....). Ich schlage vor: Wir bereiten ein Schulfest vor und führen es durch. Eine sachliche Begründung sei mit den Stichwörtern "Öffentlichkeitsarbeit", "Verbesserung des Arbeitsklimas", "Förderung kreativer Fähigkeiten" im Bereich Unterhaltung angedeutet. Unter fachdidaktischem Aspekt können, bezogen auf die Schre3iberziehung, etwa folgende Zielfelder abgesteckt werden: a) Beherrschung von Schreibformen, die den Bereich Organisation, geschäftliche Durchführung erfordern; b) Werbung für ein Vorhaben; Werben von Mitarbeitern, Werben um Publikum; c) Unterhalten und Spielen d) Leser- wie sachbezogen berichten.
2.3 Bereich Freizeit: individuelle Aktivitäten
Zunächst soll hier vor einigem Negativem gewarnt werden: Die Schule gerade in der späten MIttelstufe sowie in der Studienstufe beansprucht den Schüler schon so stark, dass sie sich nicht auch noch in seinen Freizeitbereich hineindrängen sollte. Allerdings beobachten wir auch, da ß die Schüler immer weniger mit ihrer Freizeit anzufangen wissen und so auf die Hilfe angewiesen sind, die ihnen von außen angeboten wird. Bedenken wir nun, dass gerade in letzter Zeit sich mehr und mehr Scharlatane hier tummeln und die Lebenssituation der Jugendlichen dazu benutzen, eigene politische Ideologien zu verbreiten, so wird klar, dass sich die Schule nicht vornehm zurückhalten kann, wenn es um den Bereich Freizeit geht. Entwicklungspsychologisch können wir feststellen, dass mit der Mittelstufe ein Prozess beginnt, den man als Konzentration auf individuell ausgeprägte Hobbies bezeichnen kann. Der damit einhergehende Versachlichungsprozess, wie er sich etwa im Griff zum Sachbuch spiegelt, dieser Versachlichungsprozess im Verhältnis Ich-Welt ist verbunden mit dem komplementären Prozess der Aneignung von Welt. Interessant wird dieser Bereich aufgrund der Vielfalt möglicher Gegenstände und vor allem hinsichtlich der Mitovation, die der einzelne seinem Hobby entgegenbringt. Schwieriger wird es, wenn wir den Beriech in Richtung partnerschaftliches Arbeiten zu öffnen versuchen. Noch mehr Schwierigkeiten könnten auftreten beim Versuch, die Motivation, die ja an einen engen Sachbereich gebunden ist, aufeine größere Gruppe zu übertragen. Pädagogisch gesehen bieten sich allerdings gerade hier Möglichkeiten an, in einem sachorientierten (und damit für den Schüler auch in den Folgen einsehbaren!) Bereich demokratische Interaktionsformen einzuüben, die, wenn auch nicht eigens thematisiert, das Arbeiten bestimmen könnten. Die Schreiberziehung könnte sich auf folgende Zielkomplexe beschränken bzw. konzentrieren: a) Wie hält man sach- und problemorientiert etwas fest? b) Wie erklärt man sach- und partnergerecht? c) Wie erläutert man komplexe Zusammenhänge?
2.4 Bereich Freizeit: Gruppenbezogene AktivitätenMag sein, dass die Frage "Jugendgruppe oder nicht?" heute nicht mehr aktuell ist. Das Bedürfnis aber, sich in irgendeiner Weise wenigstens für eine gewisse Zeit und/oder zu bestimmten Zwecken zu organisieren, besteht auch noch in der Gegenwart, das zeigt ein Besuch in einem Jugendhaus, Jugendtreff, in Teestuben und dergleichen mehr. Selbst wenn wir uns einmal in Jugendkneipen wagen, werden wir feststellen, dass wir auch dort so etwas wie eine Gruppenbildung beobachten können, die über die Zufälligkeit der einmaligen Begegnung weit hinausreicht. Von der Sachlage her bieten sich hier mehrere Themenbereiche an, die für die Schreiberziehung interessant werden können. Zunächst einmal könnten wir zwei Themenbereiche abgrenzen, die einander ergänzen: a) Das Angebot vorhandener Gruppen, Verbände, Vereine... erkunden und diskutieren; b) Organisieren einer Gruppe, die eigene Interessen verfolgt. c) Mann könnte nun beiden Themen noch angliedern: Frage nach anthropologischen Zusammenhängen einer solchen Gruppenbildung Wenigstens die beiden ersten Bereiche sollten berücksichtigt werden. Das bedeutet im Einzelnen: a) Die Vielfalt des Angebots kommt der individuell ausgeprägten Interessenslage entgegen. Vor der Entscheidung aber sollte man sich Informationen beschaffen, es sollte nachgedacht werden. Auch nach der Entscheidung sollte kritische Mitarbeit und Mitverantwortung wichtiger sein als Anpassung. Freilich darf die kritische Mitarbeit nicht in der reinen Kritik enden. Die Schreiberziehung könnte hier einige Hilfestellungen geben. Sie könnte - das Informieren als Grundlage des Erörterns erkennbar werden lassen; - Sie könnte das Erörtern bzw. das Nachdenken einüben als eine Voraussetzung einer verantwortlichen Entscheidung; - Sie könnte das Argumentieren als eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Durchsetzung eigener Ideen einüben; - Man könnte auch besprechen, wie man erfolgreich und gleichzeitig sachangemessen für ein Vorhaben wirbt. b) Zum zweiten Bereich wäre zu sagen: Trotz des vielfältigen Angebots werden die individuellen Neigungen nicht immer genügend berücksichtigt. So ergibt sich die Notwendigkeit Gleichgesinnte für ein eigenes Vorhaben zu gewinnen. Auch hierbei könnte der Aufsatzunterricht gelegentlich helfen. Er könnte zum Beispiel - erfahrbar machen, wie man über ein Vorhaben informiert; - wie man für eine Idee wirbt; - wie man verbindliche Normen aufstellt; - wie man sich im Rahmen eines gesetzten Vorhabens mit anderen sachgerecht und zielorientiert auseinandersetzt.
Es ist nun wohl die eine oder andere Situation angedeutet worden, in der Erörterungen notwendig werden könnten. Allerdings: Nur selten gingen wir da auf schriftliche Formen des Erörterns ein. Gerade wenn es um Fragen der Situierung geht, tauchen größere Probleme auf. Erörterung oder Begründung treten kaum als isolierte Formen in der außerschulischen Wirklichkeit auf, wohl aber sind Erörtern und Begründen in vielen Schreibsituationen unumgängliche Sprech- bzw. Schreibhaltungen, von denen Erfolg und Misserfolg abhängen. Das muss dem Schüler zunächst einmal einsichtig gemacht werden. Dann sollte man doch auch versuchen, ihn so weit zu bringen, sich ernsthaft mit Übungsformen auseinaderzusetzen, um sich die Fertigkeiten anzueignen, die in der außerschulischen Realität wohl doch notwendig werden. Für uns im Unterricht aber bedeutet das: a) Wir müssen immer wieder auf bestimmte Situationen zurückgreifen, die ein Erörtern und Begründen notwendig machen. b) Wir müssen Probleme isolieren und müssen isoliert üben. c) Es wird dann eine Rückführung in mögliche situative "Rahmen" notwendig werden. Ich nenne einmal einige solche Situationen, die ein schriftliches Begründen erfordern: a)Eingriffe in öffentliche Diskussionen - Leserbrief, der begründet; - Leserbrief, der sich mit Positionen auseinandersetzt; - Flugblatt, das Thesen argumentativ vertritt; - öffentliche Stellungnahme und Begründung b) Vertreten der eigenen Interessen in der Öffentlichkeit oder gegenüber staatlichen Stellen -Widerspruch, der eine Begründung enthalten muss - Eingabe, die eine Situation darlegt und eine Forderung begründet c) Schreiben aus dem persönlichen Bereich - Persönlicher Brief, der Gründe (etwa einer Entscheidung) darlegt; - persönlicher Brief, der eine Bitte äußert und sie begründet;
Erwartbare Schwierigkeiten Aus der Unterrichtserfahrung sind wir mit vier Bereichen vertraut, in denen regelmäßig Schwierigkeiten auftreten. Ich werde die Bereiche kurz umreißen und dann bei Gelegenheit Teilsequenzen vorstellen, die sich mit dem einen oder anderen Teilbereich beschäftigen. Diese Teilsequenzen sind dann bei Bedarf in den laufenden Unterricht einzubauen. 1 Erster Schwierigkeitsbereich: Das Problem Die Schüler kommen mit dem Thema nicht so ganz zurecht. Sie verstehen nicht was unter dem "Problem" zu verstehen sei. Ihnen fehlt im Gegenstandsbereich Sachkenntnis oder es fehlt ein sachbezogenes Engagement, es fehlt der Überblick, sie haben wenige Fähigkeiten, ein Problemfeld zu strukturieren. Ich werde hierzu eine Teilsequenz vorstellen ,die sich damit beschäftigt, wie man einen "Problemhorizont" abgrenzt, wie man den Themabegriff herausarbeitet, wie man Fragen entwickelt, die ein Problem aufschlüsseln, schließlich auch, wie man Stoff anordnet und gliedert. 2 Zweiter Schwierigkeitsbereich: Das Begründen Wir beobachten immer wieder fehlendes Abstraktionsvermögen, Schwierigkeiten mit der Logik treten auf, es wird nicht unterschieden zwischen Grund und Beispiel, zwischen Grund und Argument, zwischen Argumenten verschiedenen Abstraktionsgrades. Es fällt so den Schülern z.B. sehr schwer, mehrere untergeordnete Gesichtspunkte unter einem übergeordneten Gesichtspunkt zusammenzufassen. In gleicher Weise fällt es ihnen schwer, von einer konkreten Beobachtung zu einer gültigen Begründung zu kommen, zu unterschieden zwischen Vermutungen und Behauptungen usw. Schließlich ist es auch nicht immer ganz einfach, eine Aussage zu beweisen, sie zu belegen oder zu stützen. Auch hierzu wird eine Teilsequenz vorgestellt werden. 3 Dritter Schwierigkeitsbereich: Sprache Oft wirken Schüleraufsätze, die sich mit dem Erörtern abplagen etwas formelhaft-hölzern. Hier müssen wir zumindest anfangs konziliant bei unserer Beurteilung sein. Wir müssen über formelhafte Einleitungen, über klischeehafte Schlüsse, leere Überleitungen hinwegsehen, ehe wir uns um ein verbesserndes Bearbeiten bemühen. Wir können natürlich im Unterricht hier sehr viel tun: Wir können verschiedene Grundformen der Einleitung erarbeiten, wir können eine Liste von Überleitungen zwischen Argumenten bzw. Argumentationsreihen zusammenstellen, wir können uns auch mit dem Schluss beschäftigen und Formulierungshilfen geben. Das Grundproblem, das sich im Bereich Sprache allerdings stellt, ist darin zu sehen, dass die Sache Erörterung eine angemessene Sachsprache fordert, dass wir aber andererseits auch ein persönliches Engagement fordern. Wir müssen also schon damit rechnen, dass der Schüler auch mal "persönlich" wird beim Argumentieren. Hier wird es Aufgabe des Unterrichts sein, zu einer sachangemessenen Argumentationsweise zu führen, ohne das persönliche Betroffen-Sein auszuklammern. 4 Vierter Schwierigkeitsbereich: Makrosyntax Hier geht es um den Textaufbau und die Gedankenführung. Wir stellen immer wieder gewaltige Mängel bei der Stoffanordnung, der Gliederung der Ausführungen und vor allem bei der Stringenz der Gedankenführung. Gerade hier treten wohl die häufigsten Fehler auf: Ein Glied in der Argumentationskette wird ausgelassen, es wird gesprungen, einiges wird zu knapp dargestellt, Zusammenhänge werden nicht erkennbar (da sie nicht explizit dargestellt werden!). Oft handelt es sich hier um Fehler, die der Schüler nicht als "falsch" nachvollziehen kann. Für ihn ist ja die thematische Progression in Ordnung, seiner Meinung nach liegt e s am Leser. Wir müssen den Schüler also dazu anleiten, beim Erörtern die Rolle des Lesers mitzudenken, sozusagen den Kommunikationsprozess mehrdimensional mit zu vollziehen.
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