Erlebniserzählung

 

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Es gibt wohl kaum einen Unterrichtsgegenstand im gesamten schulischen Bereich, der so häufig und so nachhaltig den häusli­chen Frieden ungezählter Familien gefährdet hat, wie der "Erlebnisaufsatz". Wie viele Wandertage und Ausflüge wurden schon vermiest durch den Zwang, etwas Aufsatzrelevantes erleben zu müs­sen. Wie vielen Kindern werden die Ferien, vor allem die letzten Ferientage, verdorben durch den Gedanken an die Zeit nach den Ferien und den berüchtigten Aufsatz über das schönste Ferienerlebnis. Natürlich erleben auch die heutigen Kinder (und sei es auch " nur" am Computer oder mit dem Game-Boy. Aber ihre Erlebnisse passen nicht immer so recht "ins Bild", das sich der Lehrer, mit welchem Recht  auch immer, von den Erlebnissen macht, die Kinder zu erleben haben. Sie sind nicht immer das, was Erwachsene aufgrund eigener Wünsche, Erinnerungen, Träume als Erlebnisse erwarten, und lassen sich eben nicht in Form eines "Erlebnisaufsatzes" erzählen. So wirkt dann im verzweifelt suchenden Rückblick der schönste Badeurlaub trist und langweilig, enthielt er doch so gar nichts, was sich für einen Aufsatz verwenden ließe, denn, daß man die vollbusige Dame  mit Schlamm bespritzt hat, darf man nicht erzählen, da ist schon Mama dagegen. Nicht selten dürften sich Dialoge wie der folgende zu Hause abspielen:

"Was ist, machst du deine Hausaufgaben?"

"Ooch, ich weiß nicht, was ich schreiben soll!"

"Worüber sollt ihr denn schreiben?"

"Mein schönstes Ferienerlebnis!"

"Na, da hast du es doch einfach! Denk mal an Italien. War das nicht schön?"

"Ooch, schon, aber..."

"Was aber?"

"Na, so'n richtiges Erlebnis mit Steigerung und Höhepunkt war da doch nicht bei!"

"Aber hör mal! Du wirst doch nicht sagen, es war langweilig?"

"Ooch, naja..."

"Was hat dir denn am besten gefallen?"

"Ja, am besten gefallen hat mir, als der Zoll Papa beim Schmuggeln erwischte und Papa so ins Schwitzen geriet."

"Aber das kannst du natürlich nicht schreiben!"

...

Meist endet die Geschichte damit, daß die Familie mit vereinten Kräften ein Erlebnis zusammenflickt, in dem dann Versatzstücke aus Gelesenem, aus Fernsehstücken und vielleicht auch das eine oder andere persönlich Erlebte auftauchen.

Und wir als Lehrer? Wir behaupten nach wie vor: Die Kinder schreiben so gerne Erlebnisaufsätze. Sie erzählen so gern usw..

Gewiß: Kinder erzählen gern, wenn sie Zuhörer haben. Sie erzählen gern von dem, was sie erlebt haben, erleben möchten, was sie sich erträumen, sich wünschen, sie trennen da nicht so genau. Wenn wir sie aber zwingen, nach vorgegebenen Mustern Erlebnisse wiederzugeben, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn uns entsprechend "musterhafte" Erlebnisse angeboten werden. Es wäre allerdings geradezu unverschämt, würden wir das Erzählte in der Wirklichkeit überprüfen und mit Anmerkungen wie "Hier flunkerst du!" versehen. Wir sollten uns, ehe wir solche Aufträge zum Erzählen erteilen, klar machen, was wir eigentlich wollen: Wollen wir eine "Erzählung"? Dann sollen die Kinder erzählen. (Dann haben sie auch alle Rechte, die ein Erzähler für sich beanspruchen kann!) Oder wollen wir einen bericht? Dann geht es darum, etwas sachlich korrekt darzustellen. Das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Und wenn es um Erlebnisse geht, haben wir nicht immer das Recht, den Kindern einen Bericht abzufordern. Hier sollten wir auch das achten, was wir gemeinhin als Persönlichkeitssphäre bezeichnen. Wir sollten uns darüber hinaus klar machen, daß entsprechend der sozialen und kulturellen Herkunft der Schüler auch die "schulaufsatzrelevanten" Erlebnisse verschieden -wenn überhaupt vorhanden!- sind. Wir müssen uns stets bewußt sein, daß kindliche Erlebnisse anders ablaufe, als wir sie in unserem literarischen Erwartungshorizont fordern. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: In aller Regel beginnt das Erlebnis eines Kindes gleich mit dem Höhepunkt und ebbt dann langsam ab, bis das Interesse völlig verschwunden ist. (Das wird besonders deutlich, wenn Kleinkinder aufgeregt erzählen, was sie gerade Wildes erlebt haben.) Wir a ber geben eine bestimmte Form vor, i n der der Höhepunkt im letzten Drittel der Erzählung auftaucht. Was bleibt dem Kind da anderes übrig, als mit Gewalt ein Erlebnis nachzustellen bzw. nachzuempfinden. So setzt es sich dann automatisch der Kritik aus, hier gehe es in seinem erzählen an der Wirklichkeit vorbei. Wir könnten nun versuchen, die hier angesprochene Problematik in den Griff zu bekommen, indem wir unsere Themenstellungen auf "kleine Erlebnisse des Alltags" beschränken. (Beispiele: Beinah wäre ich erwischt worden. Oder Wie ich mit einer schwierigen Situation fertig geworden bin ) Ein Grundproblem bleibt allerdings bestehen: Bei Kindern aus so genannten "bildungsfernen Schichten ist nicht anzunehmen, daß sie in der  von uns in der Schule erwarteten "Sprache" erleben. Sie müsse n also immer noch in der Zwangssituation "Aufsatzschreiben" ihre Erlebnisse -falls überhaupt vorhanden - in eine vermutlich inadäquate Sprache umsetzen. Oder aber sie werden versuchen, möglichst schnell in der geforderten Sprache etwas "nachzuerleben". Daß sie dabei auf Sprach- und auch Handlungsmuster zurückgreifen, die ihnen aus den Meiden geläufig sind, darf uns dann nicht verwundern. Kinder mit besseren Startchancen haben di ese Schwierigkeiten nicht. Auf sie kommt allerdings die andere Schwierigkeit zu: Sie müssen mit ihrer Eloquenz fertig werden. Sie werden nicht selten dazu verleitet, verbal etwas nach- oder neu zu erleben (nach gewünschten od er aktuellen Mustern). Nun ist dagegen prinzipiell nichts einzuwenden, wenn da nicht die "Wahrheitskategorie" wäre, die immer bei der Beurteilung von Erlebnisaufsätzen mitspielt.

Ein zentrales Problem der hier zu diskutierenden Aufsatzart wurde bisher noch nicht angesprochen bzw. tauchte nur immanent auf: Was ist überhaupt unter dem "Erlebnisaufsatz" zu verstehen, der in annähernd allen Lehrplänen fröhliche Urständ feiert?

Sofern "Erlebniserzählung" gemeint ist, beinhaltet bereits der Begriff einen unlösbaren Widerspruch: "Erlebnis" verweist eindeutig auf eine direkt referentielle Darstellungsform, insofern das mitzuteilende Geschehen, eben das "Erlebnis", etwas ist, das in der Wirklichkeit abgelaufen ist und so die Form der Mitteilung bestimmen müßte. Das heißt also: Der Redegegenstand des Textes liegt außerhalb des Textes, ist als Ablauf in der Wirklichkeit vorhanden auch ohne den Text. Nun aber verweist der zweite Begriffsteil ("-erzählung") deutlich in der Bereich fiktionale Texte, d.h.: die sprachlichen Zeichen, der Erzählvorgang selbst bzw. die sich in ihm konstituierende Wirklichkeit/Möglichkeit steht im Mittelpunkt des Textes. Der Ablauf der Erzählung existiert nur durch die Erzählung, ohne die Erzählung gibt und gab es ihn nicht. Man mag das auf den ersten Blick als Haarspalterei empfinden, aber genau besehen macht es  das Grundproblem besonders deutlich: auf der einen Seite eine Darstellungsform mit all ihren Implikationen - zentral ist dabei: der Redegegenstand wird erst  durch den Text konstituiert. - , auch der anderen Seite ein schon in der Wirklichkeit vorhandener Ablauf. Legen wir nun den Schwerpunkt  auf "Erzählung" und betrachten eine erlebte Wirklichkeit als "Steinbruch" aus dem einzelne Teile in die Erzählung als Anregung aufgenommene werden, dann -aber nur dann! - ist gegen die Form "Erlebniserzählung" wenig einzuwenden. Einige der oben vorgebrachten Argumente müssen wir allerdings immer noch beachten. Sie sind noch nicht entkräftet. Wir könnten so z.B. dafür sorgen, daß alle Kinder  inetwa gleiche Startchancen haben, indem wir Stichpunkte liefern, die ein mögliches Erlebnis in Erinnerung rufen können. Auf keinen Fall aber darf dann das erzählte Geschehen in der Wirklichkeit überprüft werden. M.a.W.:wir müssen den Kindern den Weg gestatten zwischen Wirklichkeit und Erlebtem einerseits und erfundenem Geschehen andererseits.

Versteht man nun aber unter "Erlebnisaufsatz" einen "Erlebnis­bericht", so fällt die angesprochene Textart unter die sachlichen Darstellungsarten und ist nach den dort zu behandelnden Kriterien anzufertigen. Anweisungen wie "spannend erzählen", "lebendig darstellen" usw. sind dann fehl am Platz. Es geht vielmehr um eine präzise Darstellung eines Ablaufs, der so darzustellen ist, daß er re-konstruierbar, nachvollziehbar wird. Er muß also sachgerecht und korrekt berichtend dargestellt werden. Diese Schreibform wird sich als notwendige Form des Zeugenberichts halten, da sie eine rationale Durchdringung der erlebten Wirklichkeit ermöglicht.

Was sollen wir nun als Pädagogen tun? Ich glaube, wir sollten uns schon dafür interessieren, was unsere Schüler erleben, was sie erlebt haben oder erleben möchten, was sie sich erträumen, was sie sich wünschen. Gerade hier sollten wir die Möglichkeit des Erzählens nutzen, auch des Erzählens von Erlebtem. Nur: Es muß von vorn herein klar sein, daß es um die Unterhaltung geht und nicht um Noten. Und wenn es um Noten geht, dann müssen wir uns auf das beschränken, was lehrbar ist, zumindest wenn es um schlechte Noten geht. Wir sollten uns dann wohl doch zuunächst einmal auf das mündliche Erzählen beschränken und sollten dem Schüler geduldige Zuhörer sein. Wir sollten ihm auch gestatten, im Sinne einer "poetischen Wahrheit" von der Wirklichkeit abzuweichen, d.h. wir sollten das Erzählen sehen als das, was es sein will und soll: als eine fiktionale Form. Eine Erzählung, und auch eine Erlebnis­erzählung, will zunächst unterhalten. Sie ist kein Zeugenbericht. Das bedeutet: Man muß sich nicht streng an das in der Wirklichkeit Abgelaufene halten. Allerdings: das erzählte Geschehen sollte dem Anspruch nach Wahrscheinlichkeit gerecht werden.

Wenn der schriftlich vorzulegende Erlebnisaufsatz als Erlebnis­erzählung nun einmal doch sein muß und einige Lehrplanmacher immer noch (oder wieder) glauben, es gehe nun einfach nicht ohne diesen Texttyp, dann sollten wir doch vielleicht einmal beim Altmeister Goethe kurz in die Lehre gehen und schauen, wie er das macht. Bezeichnenderweise schreibt er über all seine Erlebnisse "Dichtung und Wahrheit". Wir brauchen uns nicht den Kopf zu zerbrechen über die philosophischen Hintergründe und Zusammenhänge, über das, was Goethe ontologisch mit diesem Titel meinte oder  ähnliches. Es genügt, wenn wir uns vor Augen halten: Es gibt auf der einen Seite eine Wirkllichkeit, die in irgendeiner Form wie auch immer abläuft, die sich im Ablauf vielleicht sogar festhalten, in Sprache fassen, beschreiben läßt. Es gibt aber auf der anderen Seite das diese Wirklichkeit erlebende Subjekt. Und bereits hier wird es äußerst problematisch, wenn wir so etwas wie eine "objektive" Darstellung erwarten. Fordern wir darüber hinaus gar eine unterhaltsame Erzählung, dann sollten wir einen zweiten Filter einkalkulieren, der bewußt auf den Anspruch "historische Wahrheit" verzichtet zugunsten eines jetzt übergeordneten Anspruchs: der "poetischen Wahrheit". Sehen wir uns das im konkreten Fall Goethes an und untersuchen Text C2. Schauen wir genauer hin, so stellen wir fest, daß dieser Text ganz klar strukturiert ist, und zwar folgt diese Strukturierung keineswegs dem, was sich zufällig in der Wirklichkeit so begeben hat, sondern einem Aufbauwillen des erzählenden Ichs, das sich zwar an das Erlebte erinnert, das aber andererseits im Rahmen der Darstellung die einzelnen Geschehensteile nach einem identifizierbaren Prinzip anordnet und dabei die Wirkung auf einen ins Auge gefaßten Leser einkalkuliert. Vielleicht waren beim Schreibprozeß noch andere Intentionen wirksam. Deutlich können wir aber auf jeden Fall anhand einer Rekonstruktion der Gliederung die Wirkungsintention als strukturbestimmendes Prinzip ausmachen. Wir können also festhalten: Es gibt einerseits ein Erlebnis in der Wirklichkeit. Dieses Erlebnis aber wird gewissermaßen nur als "Stoff", als "Kern" genutzt. Der Stoff wird zweckmäßig geordnet, gegebenenfalls im Interesse einer Erzählintention gefiltert und neu angeordnet. Dabei ist zu beachten, daß Ergänzungen möglich sind. Für diese allerdings gilt die Maßgabe: Sie müssen im Rahmen des Erzählkerns wahrscheinlich bleiben. Die zusätzlichen Erzählteile müssen also so geschehen sein können (das heißt nicht, daß sie so geschehen sein müssen!). Vor allem aber werden sich Abweichungen im Bereich Anordnung der einzelnen Geschehensteile ergeben. Der Geschehensablauf sollte allerdings zeitlich geordnet und in sich schlüssig dargestellt werden. Doch wird man die einzelnen Teile so anordnen, daß z.B. eine Steigerung bis hin zum Höhepunkt spürbar wird.

Daraus können wir nun erste unterrichtsmethodische Konsequenzen ableiten und die Schwerpunkte der ins Auge gefaßten Sequenz ausmachen:

-  Wenn es beim Erzählen von Erlebnissen tatsächlich darum geht, das Erlebte als Stoff zu betrachten, der dann nach erzählerischen Gesichtspunkten aufbereitet, gegliedert, verarbeitet werden soll, dann empfiehlt es sich, zunächst einmal die Sequenz "Ausgestalten eines Erzählkerns" zu behandeln und dann erst zum Erzählen von Erlebnissen überzu­gehen.

-  Gleichzeitig wird dann auch die Teilstruktur des Erzähl­prozesses erkennbar: Zunächst einmal sollte das Erlebnis sprachlich gefaßt und als "Stoffkern" formuliert werden.

-  Dieser Kern wird in einzelne Handlungsteile zerlegt, die wiederum nach schon angedeuteten Prinzipien u.U. neu geordnet werden.

-  Man wird eine geeignete Perspektive wählen (in der Regel die Ich-Perspektive). Dabei ist es möglich, aus der Distanz dessen zu erzählen, der zwar alles vor einiger Zeit erlebt hat, der aber im Augenblick des Erzählens bereits weiß, wie die Geschichte ausgeht und von diesem Wissen her das eine oder andere kommentieren, der auch vorausdeuten kann. Es ist aber auch möglich, mitten aus dem Erleben heraus mit dem beschränkten Horizont des gerade Erlebenden zu erzählen und so den Leser noch näher an das Geschehen heranzuführen. Das erlebende Ich erscheint in jedem Fall besonders glaubwürdig.

-  Die Perspektive gibt dem Erzähler die Gelegenheit, besonders genau Handlungsmotive, innere Vorgänge und Stimmungen darzustellen.

 

Hier finden Sie die passende Sequenz:https://lehrerheld.com/#/