Hermeneutik

 

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Hermeneutik – Von der Zirkelstruktur des Verstehens

0       Das Paradoxon des Zirkels

'Hermeneutik‘ als Methode bestimmte (und bestimmt?) die Auseinandersetzung mit Kunstwerken (wir können sogar sagen: mit allen kulturellen Produkten im semiotischen Sinn) bis in unsere Zeit. Keine andere Methode ist so vielen Missverständnissen ausgesetzt gewesen und führte zu so vielen ideologischen Vereinseitigungen wie gerade sie. (Meines Erachtens stellen die modernen Ansätze einer „kritischen Hermeneutik“ oder des „ideologiekritischen Lesens“ nichts anderes dar als neue, wiederum ideologische Versionen der alten Methode.) Wir kommen nicht umhin, uns mit einzelnen Punkten der Begriffs- und Methodengeschichte zu beschäftigen, wenn wir nach der fachwissenschaftlichen Brauchbarkeit und der didaktischen Relevanz fragen.

Der „hermeneutische Zirkel“ versucht den Prozess des Verstehens abzubilden und damit begreifbar zu machen. Dabei geht es um das Verhältnis der einzelnen Teile des zu verstehenden Ganzen zu dem Ganzen selbst. Verstehen ist nur möglich, wenn das Ganze verstanden wird, das ganze aber kann nur verstanden werden, wenn die Teile verstanden werden. Damit enthält der Zirkel ein Paradox: Das, was verstanden werden soll, muss vorher schon „irgendwie“ verstanden sein. Allerdings: Schaut man genauer hin, so ist auch im Detail immer wieder eine Zirkelstruktur wirksam, die am Ende aber immer wieder Fortschritte bringt, also eigentlich als „Spirale“ zu beschreiben wäre.

Am Verstehen sind mehrere Faktoren beteiligt, die auf Subjekt- wie auf Objektseite wirksam werden können. Immer aber geht es um die Frage nach „Sinn“, der schon „erwartet“ und dann überprüft wird. Damit haben wir es wiederum mit einem „Zirkel“ zu tun: Vorverständnis und Sinnerwartung sind nicht ohne Einfluss auf das Verstehen, genauer gesagt: Sie beeinflussen sich ständig gegenseitig und wie das Vorverständnis das Verständnis beeinflusst, so verändert auch das fortschreitende Versehen die jeweils mitschwingende Sinnerwartung.

Gerade wegen der engen Verflechtung und vielfältigen Beeinflussung wird es notwendig, die einzelnen Faktoren zu fixieren und in ihrer Wirkungsweise zu kontrollieren, zumindest aber sie als Wirkungsfaktoren bewusst zu halten.

Um welche Faktoren es sich da jeweils handelt, lässt sich am besten darstellen, wenn man die historische Entwicklung der Hermeneutik kurz nachzeichnet.

 

1       Vor-Geschichte

Die hermeneutische Regel des gegenseitigen Erschließens des „Ganzen“ und des „Einzelnen“ stammt aus der Antike. Die Konstitution des „Sinns“, den das Ganze meint, wird durch Erfassen der Teile in ihrer Bezogenheit aufeinander im Rahmen des „Ganzen“ ermöglicht. Der hermeneutische Zirkel besteht also in der Bewegung des Verstehens vom Ganzen zum Teil und vom Teil zum Ganzen. Kriterium für die „Richtigkeit“ des Verstehens ist konsequenterweise die Übereinstim­mung der Teile im Rahmen des Ganzen. Dieses Hermeneutikverständ­nis führte zur reinen Werkimmanenz, mit deren Ablehnung auch die Hermeneutik ins Zwielicht geriet.

 

2       Schleiermacher

Spätestens durch Schleiermacher allerdings wird der „immanente Zirkel“ sowohl nach seiner subjektiven wie nach seiner objektiven Seite hin differenziert. Der einzelne Text wird nun gesehen im Zusammenhang des Werks, seines Autors, der Gattung und schließlich der Literatur insgesamt. Als „Manifestation eines schöpferischen Augenblicks“ allerdings gehört er auch in die lndividualsphäre des Autors. Das Verstehen selbst wird weiterhin seitens des Lesers mitbestimmt von der "Sinnerwartung“, die wiederum abhängig ist von dem, was vorausgegangen ist.

 

 

3       Dilthey

Dilthey erweitert und präzisiert nun den Ansatz Sehleiermachers in zweifacher Weise: Die Differenzierung objektiver - subjektiver Bereich wird auf den Leser ausgedehnt. Das Verstehen setzt ein Erleben voraus, und das Erlebnis wird erst zu einer Lebenserfahrung dadurch, dass das Verstehen aus der Enge und Subjektivität des Erlebens hinausführt in die Region des Ganzen und des Allgemeinen.“[1] Dabei bleibt die Objektivität bezogen auf die Gruppe, die als 'Führungsgröße‘ den Bezugsrahmen für die individuelle Lebenserfahrung abgibt: So versteht Dilthey unter dem Begriff „Lebenserfahrung“ zunächst die individuelle Lebenserfahrung, stellt dieser aber die „allgemeine Lebenserfahrung“ gegenüber: „Unter dieser verstehe ich die Sätze, die in irgendeinem zueinandergehörigen Kreise von Personen sich bilden und ihnen gemeinsam sind. Es sind Aussagen über den Verlauf des Lebens, Werturteile, Regeln der Lebensführung, Bestimmungen von Zwecken und Gütern.“[2] Im Rückgriff auf Hegel entwickelt Dilthey eine Theorie des Zusammenhangs zwischen subjektivem und objektivem Geist, indem er ihn auf die durchgehende Geschichtlichkeit des in Frage stehenden Phänomens zurückführt. Verstehen bedeutet damit ein Verstehen von Zusammenhängen, beruhend auf der Einsicht in Strukturen. Da das Werk (als Objektivation eines subjektiven Bewusstseins) einer geschichtlichen Situation entsprungen ist, ist es selbst geschichtlich. Verstehen bleibt damit nicht mehr auf sich gestellt, es setzt vielmehr „die Verwertung geistes-wissenschaftlicher Wahrheiten voraus“[3]. Darunter versteht Dilthey das Heranziehen der Beiträge anderer Disziplinen, vor allein der Geschichtswissenschaft.

4       Heidegger

Heidegger führt einen schon bei Dilthey angelegten Ansatz fort und weitet die Hermeneutik aus zum philosophischen Verfahren schlechthin, das nun eine „Hermeneutik des Daseins“ liefern soll. Damit kommt der Zirkelstruktur des Verstehens eine neue Bedeutung zu. Verstand man sie bisher bezogen auf die Korrelation Ganzes - Teil (unter der Voraussetzung, das Ganze sei ‚sinnhaltig‘), so wird sie nun bezogen auf die Geschichtlichkeit des Daseins und von hier aus begründet.

Das bisher im Mittelpunkt stehende „Hin- und Herlaufen am Text“ wird durchbrochen von der Erkenntnis,

 

„…daß das Verständnis von der vorgreifenden Bewegung des Vorverständnisses dauerhaft bestimmt bleibt. Was Heidegger so beschreibt, ist nichts anderes als die Aufgabe der Konkretisierung des historischen Bewußtseins. Mit ihr ist verlangt, der eigenen Vormeinungen inne zu sein und den Vollzug des Verstehens jeweils so mit historischer Bewußtheit zu durchdringen, daß die Erfassung des historisch Anderen und die dabei geübte Anwendung historischer Methoden nicht das bloß herausrechnet, was man hineingesteckt hat..“[4]

 

 

Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein Entwerfen. Diese ‚Erstauslegung‘ geschieht mit Vorbegriffen, mit deren Hilfe sich der Verstehende einen Sinn des Ganzen entwirft, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Dieses Auftauchen des ersten Sinns wie auch seine Qualität sind abhängig von den Erwartungen eines Sinns, unter denen ein Text überhaupt gelesen wird.

Der Vorentwurf wird sodann ausgearbeitet, die Vorbegriffe werden durch angemessenere Begriffe ersetzt, die Ausarbeitung wird wiederum revidiert von dem her, was sich beim weiteren Eindringen in den Text an Sinn ergibt. Das bedeutet: Die Vormeinung muss sich an der „Sache“ bewähren. „Es gibt“, so stellt Gadamer fest, „keine andere ‚Objektivität‘ als die der Ausarbeitung der sich bewährenden Vormeinung“.[5]

Von „Selbstaufgabe“ angesichts eines Textes, der zu verstehen ist, keine Spur, ebenso wenig allerdings auch keine Spur v on „sachlicher Neutralität“. Wohl ist es die „Sache“, die den hermeneutischen Vorgang bestimmt, Wohl wird sich der verstehende nicht seinen Vormeinungen überlassen. Sache und Vormeinungen bilden den Kern des Verstehensvorgangs. So betont Gadamer: „Ein mit methodischem Bewusstsein geführtes Verstehen wird bestrebt sein müssen, seine Antizipationen nicht einfach zu vollziehen, sondern sie selber bewusst zu machen, um sie zu kontrollieren und dadurch von den Sachen her das rechte Verständnis zu gewinnen.“[6]

5       Gadamer

Hier setzt nun Gadamer ein, indem er die Überbrückung des Abstandes zwischen den Texten und der Gegenwart des Auslegenden als „Horizontverschmelzung“ begreift.

 

Das Ziel allen Verstehens und aller Verständigung ist das Einverständnis in der Sache. So hat die Hermeneutik von jeher die Aufgabe, ausbleibendes und gestörtes Einverständnis herzustellen . . Die erste aller hermeneutischen Bedingungen bleibt somit das Sachverständnis, das Zu-Tun-Haben mit der gleichen Sache.[7]

 

Der Abstand der Zeit wird dabei als eine produktive Möglichkeit gedeutet. Er vermag die eigentlich kritische Aufgabe der Hermeneutik zu lösen, die wahren Vorurteile von den falschen zu scheiden. Das hermeneutisch geschulte Bewusstsein wird daher ein historisches Bewusstsein enthalten. Es wird die das Verstehen leitenden Vorurteile bewusst machen müssen, damit die Überlieferung, als Andersmeinung, sich ihrerseits abhebt und zur Geltung bringt.‘[8]

Das Gesagte enthält zugleich eine „grundsätzliche Suspension der eigenen Vorurteile“ als Forderung. Wieweit aber ist damit auch eine Aufgabe des eigenen Standorts für den Verstehenden verpflichtend?

Die Frage steht in engem Zusammenhang mit der Struktur des Horizonts der Gegenwart, der eben als in steter Bildung begriffen verstanden wird. Sofern wir all unsere Vorurteile ständig erproben müssen, bilden wir diesen Horizont aus in der Auseinandersetzung / Konfrontation mit Horizonten der Vergangenheit. „Es gibt sowenig einen Gegenwartshorizont für sich, wie es historische Horizonte gibt, die man zu gewinnen hätte. Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte.“[9]

In dieser jeweiligen Verschmelzung (als Prozess selbst wieder geschichtlich) sieht Gadamer die „Wirklichkeit der Geschichte“ wie die „Wirklichkeit des geschichtlichen Verstehens . . . Eine sachangemessene Hermeneutik hätte diese eigentliche Wirklichkeit der Geschichte im Verstehen selbst aufzuweisen.“ Das damit Geforderte nennt Gadamer „Wirkungsgeschichte“[10].

6       Didaktische Aspekte

Eine grundsätzliche Kritik der Methode soll und kann hier nicht geleistet werden. Dennoch aber seien die wichtigsten didaktischen Bedenken kurz skizziert (ohne dass damit die Methode als Ganzes abgelehnt bzw. in ihrer Berechtigung bestritten werden soll. Eher geht es darum, die Notwendigkeit aufzuzeigen, auch andere Methoden — und sei es auch nur ergänzend — heranzuziehen).

Die hermeneutische Methode als Strategie, im Unterricht Schülern die Möglichkeit zu vermitteln, Texte (besonders: poetische Texte) zu „verstehen“, steht und fällt mit zwei Faktoren.

a) Fehlt im Bewusstsein des Schülers das (auf den konkreten Text bezogene) erkenntnisleitende Interesse, ist also der Schüler aufgrund seiner bisherigen Sozialisation nicht in der Lage, einen Text als (mögliche) Erkenntnishilfe anzuerkennen, so fehlt die notwendige Bedingung der Erwartung. Zwar ist Unterricht dann unter Umständen noch möglich, doch wird kein „Verstehen“ zustande kommen, das dem Text gerecht wird, zumal eben die Bereitschaft fehlt, Bewusstsein zu verändern.

Damit spielt der Horizont des Schülers eine bedeutende Rolle: Ist der Abstand zwischen Schüler- und Texthorizont zu groß, bestehen also keine oder zu wenige Berührungspunkte, so wird Horizontverschmelzung nur möglich sein entweder als Abbiegung oder — und das ist wohl nicht selten der Fall — als Ausliefern des Schülers an den Text. Möglicherweise wird der Schüler zwar ein — vom Lehrer vorgegebenes —„Verstehen“ reproduzieren, doch wird für ihn dieses Verstehen (von den Noten einmal abgesehen) folgenlos bleiben, da es ihn nicht „angeht“.

b) Die hermeneutische Methode scheint den Zirkel (Vorurteil — Urteil) schon vorauszusetzen. Damit geht sie (zumindest zunächst) an all den Schülern vorbei, deren Rolleninventar Verhaltensweisen, wie sie der Zirkel vorsieht, aus soziokulturellen Gründen nicht enthält. Soll im Unterricht dennoch gearbeitet werden, so besteht die Gefahr, dass entweder auf einer zu abstrakt-allgemeinen (und damit wirkungslosen) oder einer zu individualistisch-intuitiven (und damit ebenso wirkungslosen) Ebene gearbeitet wird. Am Ende einer Überbetonung der subjektiv-individuellen Seite kommt es zur totalen Verinnerlichung (siehe hierzu Adornos berechtigte Kritik[11]) und zum Verlust sozialer wie geschichtlicher Kontexte. Ein zu abstraktes Vorgehen, verbunden mit der „Suspension der Vorurteile“, führt zu ideologischer Affirmation, da der eigene geschichtliche Kontext aufgegeben wird und damit auch die Geschichtlichkeit des in Frage stehenden Textes verloren geht. Aus dem Text abgeleitete „Werte“ gewinnen dann überzeitlichen Charakter und Geltungsanspruch und verhindern letztlich beim Rezipienten kritisches, gegenwarts- wie zukunftsorientiertes Bewusstsein.

Zum Problem der „Horizontverschmelzung“ und des dabei anklingenden Geschichtsoptimismus sei auf zwei Gesichtspunkte hingewiesen, die den methodischen Grundansatz problematisch werden lassen könnten:

Zum einen handelt es sich um eine rudimentär angelegte Geschichtslosigkeit. Der Werkhorizont wird zwar durch die Wirkungsgeschichte erweitert / angereichert, kann aber als solcher nicht in Frage gestellt werden. Damit verbunden ist zwangsläufig zum anderen eine Negierung jeglicher Dialektik im historischen Prozess. Geschichte wird verstanden als — wenn auch unter Umständen aufsteigende — lineare Abfolge von Horizontverschmelzungen, wobei man meines Erachtens hinter den von Dilthey erreichten Stand zurückgehend das Werk und seine originäre (an seine ursprünglichen Leser gerichtete) Botschaft aus dem Blick verliert und unter Absehen von allen soziokulturellen Implikationen ein „für alle Zeiten Gültiges“ herausfiltert, eben einen Horizont, mit dem der Horizont des gegenwärtigen Rezipienten, sieht man auch hier von soziokulturellen Kontexten ab, verschmelzen kann.

Der Altphilologe H. Munding schlägt hier als didaktisch relevante / vertretbare Alternative einen „existentiellen Transfer“[12] vor, ausgehend von der Überlegung, dass bestimmte Vorstellungen der Antike „auch für den heutigen Menschen noch wichtig werden können. Dieser Fall (also genau genommen das Wichtig-Werden, nicht das Wichtig-Sein) wird allerdings erst bei einer bestimmten Art von interpretatorischer Bemühung eintreten.“[13] Dabei muss es vor allem darum gehen, „die antiken Vorstellungen in unsere eigene Wirklichkeit gewissermaßen ‚umzudenken“[14]. Munding dokumentiert seine Ansichten mit zwei Beispielen, deren Analyse zeigt, dass es ihm a) um eine Rekonstruktion der originären Textbotschaft und b) um einen Strukturvergleich, d. h. um die Suche nach homologen Entsprechungen im gegenwärtigen Horizont geht. Wesentlich scheint mit dabei, dass hier auf der Ebene der die Textinhalte wie die Wirklichkeit organisierenden Strukturen gearbeitet wird. (Munding spricht zwar von „Textinhalt“, verwendet den Begriff aber in Opposition zu „Textform“ und meint, das zeigt seine Arbeitsweise, die die Textinhalte organisierenden Strukturen.) Allerdings beschränkt sich Munding auf das Arbeiten mit expositorischen Texten, deren Referentialität im historischen Rekurs leichter zu rekonstruieren ist und deren originäre Botschaft damit annähernd evident werden kann.

 


[1] Dilthey, W.: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Ges. Schr. VII, S. 141

[2] Dilthey, a. a. 0., S. 132

[3] Dilthey, a. a. 0., S. 141

[4]Gadamer, Hans Georg: Wahrheit und Methode, 2. Aufl. Tübingen 1965,S. 21

[5] Gadamer, H. G.: Vom Zirkel des Verstehens. in: M. Heidegger, Festschrift zum 70. Geburtstag 1959

 [6] Gadamer, a.a.O

[7] Gadamer,a.a.0.

[8] Gadamer,a.a.0.

[9] Gadamer, Wahrheit und Methode S.289 f.

[10] Gadamer,a.a.0

[11] Adorno, Th. W.: Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt/M. 1963 (= es 91)

[12] Munding, H.: Existentieller Transfer bei lateinischen Historikern, in: Anregung, Ztschr. f. Gymnasialpadagogik, Heft 5/1974, S. 292 303, und Ders.: Vor sokratische Naturphilosophie im Kontrast zur modernen Naturwissenschaft, in: Der altsprachliche Unterricht, Heft 4/1975, S. 41 63

 [13]  Munding, Existentieller Transfer, a. a. 0., S. 292

[14] Munding a.a.O.