Hermeneutik – Von der
Zirkelstruktur des Verstehens
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Das Paradoxon des Zirkels
'Hermeneutik‘
als Methode bestimmte (und bestimmt?) die Auseinandersetzung mit Kunstwerken
(wir können sogar sagen: mit allen kulturellen Produkten im semiotischen Sinn)
bis in unsere Zeit. Keine andere Methode ist so vielen Missverständnissen
ausgesetzt gewesen und führte zu so vielen ideologischen Vereinseitigungen wie
gerade sie. (Meines Erachtens stellen die modernen Ansätze einer „kritischen
Hermeneutik“ oder des „ideologiekritischen Lesens“ nichts anderes dar als
neue, wiederum ideologische Versionen der alten Methode.) Wir kommen nicht
umhin, uns mit einzelnen Punkten der Begriffs- und Methodengeschichte zu
beschäftigen, wenn wir nach der fachwissenschaftlichen Brauchbarkeit und der
didaktischen Relevanz fragen.
Der
„hermeneutische Zirkel“ versucht den Prozess des Verstehens abzubilden und
damit begreifbar zu machen. Dabei geht es um das Verhältnis der einzelnen
Teile des zu verstehenden Ganzen zu dem Ganzen selbst. Verstehen ist nur
möglich, wenn das Ganze verstanden wird, das ganze aber kann nur verstanden
werden, wenn die Teile verstanden werden. Damit enthält der Zirkel ein
Paradox: Das, was verstanden werden soll, muss vorher schon „irgendwie“
verstanden sein. Allerdings: Schaut man genauer hin, so ist auch im Detail
immer wieder eine Zirkelstruktur wirksam, die am Ende aber immer wieder
Fortschritte bringt, also eigentlich als „Spirale“ zu beschreiben wäre.

Am Verstehen
sind mehrere Faktoren beteiligt, die auf Subjekt- wie auf Objektseite wirksam
werden können. Immer aber geht es um die Frage nach „Sinn“, der schon
„erwartet“ und dann überprüft wird. Damit haben wir es wiederum mit einem
„Zirkel“ zu tun: Vorverständnis und Sinnerwartung sind nicht ohne Einfluss auf
das Verstehen, genauer gesagt: Sie beeinflussen sich ständig gegenseitig und
wie das Vorverständnis das Verständnis beeinflusst, so verändert auch das
fortschreitende Versehen die jeweils mitschwingende Sinnerwartung.
Gerade wegen der
engen Verflechtung und vielfältigen Beeinflussung wird es notwendig, die
einzelnen Faktoren zu fixieren und in ihrer Wirkungsweise zu kontrollieren,
zumindest aber sie als Wirkungsfaktoren bewusst zu halten.
Um welche
Faktoren es sich da jeweils handelt, lässt sich am besten darstellen, wenn man
die historische Entwicklung der Hermeneutik kurz nachzeichnet.
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Vor-Geschichte
Die hermeneutische Regel des
gegenseitigen Erschließens des „Ganzen“ und des „Einzelnen“ stammt aus der
Antike. Die Konstitution des „Sinns“, den das Ganze meint, wird durch Erfassen
der Teile in ihrer Bezogenheit aufeinander im Rahmen des „Ganzen“ ermöglicht.
Der hermeneutische Zirkel besteht also in der Bewegung des Verstehens vom
Ganzen zum Teil und vom Teil zum Ganzen. Kriterium für die „Richtigkeit“ des
Verstehens ist konsequenterweise die Übereinstimmung der Teile im Rahmen des
Ganzen. Dieses Hermeneutikverständnis führte zur reinen Werkimmanenz, mit
deren Ablehnung auch die Hermeneutik ins Zwielicht geriet.
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Schleiermacher
Spätestens durch Schleiermacher
allerdings wird der „immanente Zirkel“ sowohl nach seiner subjektiven wie nach
seiner objektiven Seite hin differenziert. Der einzelne Text wird nun gesehen
im Zusammenhang des Werks, seines Autors, der Gattung und schließlich der
Literatur insgesamt. Als „Manifestation eines schöpferischen Augenblicks“
allerdings gehört er auch in die lndividualsphäre des Autors. Das Verstehen
selbst wird weiterhin seitens des Lesers mitbestimmt von der "Sinnerwartung“,
die wiederum abhängig ist von dem, was vorausgegangen ist.

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Dilthey
Dilthey erweitert und präzisiert
nun den Ansatz Sehleiermachers in zweifacher Weise: Die Differenzierung
objektiver - subjektiver Bereich wird auf den Leser ausgedehnt. Das Verstehen
setzt ein Erleben voraus, und das Erlebnis wird erst zu einer Lebenserfahrung
dadurch, dass das Verstehen aus der Enge und Subjektivität des Erlebens
hinausführt in die Region des Ganzen und des Allgemeinen.“
Dabei bleibt die Objektivität bezogen auf die Gruppe, die als
'Führungsgröße‘ den Bezugsrahmen für die individuelle Lebenserfahrung abgibt:
So versteht Dilthey unter dem Begriff „Lebenserfahrung“ zunächst die
individuelle Lebenserfahrung, stellt dieser aber die „allgemeine
Lebenserfahrung“ gegenüber: „Unter dieser verstehe ich die Sätze, die
in irgendeinem zueinandergehörigen Kreise von Personen sich bilden und ihnen
gemeinsam sind. Es sind Aussagen über den Verlauf des Lebens, Werturteile,
Regeln der Lebensführung, Bestimmungen von Zwecken und Gütern.“
Im Rückgriff auf Hegel entwickelt Dilthey eine Theorie des Zusammenhangs
zwischen subjektivem und objektivem Geist, indem er ihn auf die durchgehende
Geschichtlichkeit des in Frage stehenden Phänomens zurückführt. Verstehen
bedeutet damit ein Verstehen von Zusammenhängen, beruhend auf der Einsicht in
Strukturen. Da das Werk (als Objektivation eines subjektiven Bewusstseins)
einer geschichtlichen Situation entsprungen ist, ist es selbst geschichtlich.
Verstehen bleibt damit nicht mehr auf sich gestellt, es setzt vielmehr „die
Verwertung geistes-wissenschaftlicher Wahrheiten voraus“.
Darunter versteht Dilthey das Heranziehen der Beiträge anderer Disziplinen,
vor allein der Geschichtswissenschaft.


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Heidegger
Heidegger führt einen schon bei
Dilthey angelegten Ansatz fort und weitet die Hermeneutik aus zum
philosophischen Verfahren schlechthin, das nun eine „Hermeneutik des Daseins“
liefern soll. Damit kommt der Zirkelstruktur des Verstehens eine neue
Bedeutung zu. Verstand man sie bisher bezogen auf die Korrelation Ganzes -
Teil (unter der Voraussetzung, das Ganze sei ‚sinnhaltig‘), so wird sie nun
bezogen auf die Geschichtlichkeit des Daseins und von hier aus begründet.
Das bisher im Mittelpunkt stehende
„Hin- und Herlaufen am Text“ wird durchbrochen von der Erkenntnis,
„…daß das Verständnis von
der vorgreifenden Bewegung des Vorverständnisses dauerhaft bestimmt
bleibt. Was Heidegger so beschreibt, ist nichts anderes als die Aufgabe der
Konkretisierung des historischen Bewußtseins. Mit ihr ist verlangt, der
eigenen Vormeinungen inne zu sein und den Vollzug des Verstehens jeweils so
mit historischer Bewußtheit zu durchdringen, daß die Erfassung des historisch
Anderen und die dabei geübte Anwendung historischer Methoden nicht das bloß
herausrechnet, was man hineingesteckt hat..“
Wer einen Text verstehen will,
vollzieht immer ein Entwerfen. Diese ‚Erstauslegung‘ geschieht mit
Vorbegriffen, mit deren Hilfe sich der Verstehende einen Sinn des Ganzen
entwirft, sobald sich ein erster Sinn im Text zeigt. Dieses Auftauchen des
ersten Sinns wie auch seine Qualität sind abhängig von den Erwartungen eines
Sinns, unter denen ein Text überhaupt gelesen wird.
Der Vorentwurf wird sodann
ausgearbeitet, die Vorbegriffe werden durch angemessenere Begriffe ersetzt,
die Ausarbeitung wird wiederum revidiert von dem her, was sich beim weiteren
Eindringen in den Text an Sinn ergibt. Das bedeutet: Die Vormeinung muss sich
an der „Sache“ bewähren. „Es gibt“, so stellt Gadamer fest, „keine andere
‚Objektivität‘ als die der Ausarbeitung der sich bewährenden Vormeinung“.
Von „Selbstaufgabe“ angesichts
eines Textes, der zu verstehen ist, keine Spur, ebenso wenig allerdings auch
keine Spur v on „sachlicher Neutralität“. Wohl ist es die „Sache“, die den
hermeneutischen Vorgang bestimmt, Wohl wird sich der verstehende nicht seinen
Vormeinungen überlassen. Sache und Vormeinungen bilden den Kern des
Verstehensvorgangs. So betont Gadamer: „Ein mit methodischem Bewusstsein
geführtes Verstehen wird bestrebt sein müssen, seine Antizipationen nicht
einfach zu vollziehen, sondern sie selber bewusst zu machen, um sie zu
kontrollieren und dadurch von den Sachen her das rechte Verständnis zu
gewinnen.“

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Gadamer
Hier setzt nun Gadamer ein, indem
er die Überbrückung des Abstandes zwischen den Texten und der Gegenwart des
Auslegenden als „Horizontverschmelzung“ begreift.
Das Ziel allen Verstehens und aller
Verständigung ist das Einverständnis in der Sache. So hat die Hermeneutik von
jeher die Aufgabe, ausbleibendes und gestörtes Einverständnis herzustellen . .
Die erste aller hermeneutischen Bedingungen bleibt somit das Sachverständnis,
das Zu-Tun-Haben mit der gleichen Sache.

Der Abstand der Zeit wird dabei als
eine produktive Möglichkeit gedeutet. Er vermag die eigentlich kritische
Aufgabe der Hermeneutik zu lösen, die wahren Vorurteile von den falschen zu
scheiden. Das hermeneutisch geschulte Bewusstsein wird daher ein historisches
Bewusstsein enthalten. Es wird die das Verstehen leitenden Vorurteile bewusst
machen müssen, damit die Überlieferung, als Andersmeinung, sich ihrerseits
abhebt und zur Geltung bringt.‘
Das Gesagte enthält zugleich eine
„grundsätzliche Suspension der eigenen Vorurteile“ als Forderung. Wieweit aber
ist damit auch eine Aufgabe des eigenen Standorts für den Verstehenden
verpflichtend?
Die Frage steht in engem
Zusammenhang mit der Struktur des Horizonts der Gegenwart, der eben als in
steter Bildung begriffen verstanden wird. Sofern wir all unsere Vorurteile
ständig erproben müssen, bilden wir diesen Horizont aus in der
Auseinandersetzung / Konfrontation mit Horizonten der Vergangenheit. „Es gibt
sowenig einen Gegenwartshorizont für sich, wie es historische Horizonte gibt,
die man zu gewinnen hätte. Vielmehr ist Verstehen immer der Vorgang der
Verschmelzung solcher vermeintlich für sich seiender Horizonte.“
In dieser jeweiligen Verschmelzung (als
Prozess selbst wieder geschichtlich) sieht Gadamer die „Wirklichkeit der
Geschichte“ wie die „Wirklichkeit des geschichtlichen Verstehens . . . Eine
sachangemessene Hermeneutik hätte diese eigentliche Wirklichkeit der
Geschichte im Verstehen selbst aufzuweisen.“ Das damit Geforderte nennt
Gadamer „Wirkungsgeschichte“.

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Didaktische Aspekte
Eine grundsätzliche Kritik der Methode soll
und kann hier nicht geleistet werden. Dennoch aber seien die wichtigsten
didaktischen Bedenken kurz skizziert (ohne dass damit die Methode als Ganzes
abgelehnt bzw. in ihrer Berechtigung bestritten werden soll. Eher geht es
darum, die Notwendigkeit aufzuzeigen, auch andere Methoden — und sei es auch
nur ergänzend — heranzuziehen).
Die hermeneutische Methode als
Strategie, im Unterricht Schülern die Möglichkeit zu vermitteln, Texte
(besonders: poetische Texte) zu „verstehen“, steht und fällt mit zwei
Faktoren.
a) Fehlt im Bewusstsein des
Schülers das (auf den konkreten Text bezogene) erkenntnisleitende Interesse,
ist also der Schüler aufgrund seiner bisherigen Sozialisation nicht in der
Lage, einen Text als (mögliche) Erkenntnishilfe anzuerkennen, so fehlt die
notwendige Bedingung der Erwartung. Zwar ist Unterricht dann unter Umständen
noch möglich, doch wird kein „Verstehen“ zustande kommen, das dem Text gerecht
wird, zumal eben die Bereitschaft fehlt, Bewusstsein zu verändern.
Damit spielt der Horizont des
Schülers eine bedeutende Rolle: Ist der Abstand zwischen Schüler- und
Texthorizont zu groß, bestehen also keine oder zu wenige Berührungspunkte, so
wird Horizontverschmelzung nur möglich sein entweder als Abbiegung oder — und
das ist wohl nicht selten der Fall — als Ausliefern des Schülers an den Text.
Möglicherweise wird der Schüler zwar ein — vom Lehrer vorgegebenes
—„Verstehen“ reproduzieren, doch wird für ihn dieses Verstehen (von den Noten
einmal abgesehen) folgenlos bleiben, da es ihn nicht „angeht“.
b) Die hermeneutische Methode
scheint den Zirkel (Vorurteil — Urteil) schon vorauszusetzen. Damit geht sie
(zumindest zunächst) an all den Schülern vorbei, deren Rolleninventar
Verhaltensweisen, wie sie der Zirkel vorsieht, aus soziokulturellen Gründen
nicht enthält. Soll im Unterricht dennoch gearbeitet werden, so besteht die
Gefahr, dass entweder auf einer zu abstrakt-allgemeinen (und damit
wirkungslosen) oder einer zu individualistisch-intuitiven (und damit ebenso
wirkungslosen) Ebene gearbeitet wird. Am Ende einer Überbetonung der
subjektiv-individuellen Seite kommt es zur totalen Verinnerlichung (siehe
hierzu Adornos berechtigte Kritik)
und zum Verlust sozialer wie geschichtlicher Kontexte. Ein zu abstraktes
Vorgehen, verbunden mit der „Suspension der Vorurteile“, führt zu
ideologischer Affirmation, da der eigene geschichtliche Kontext aufgegeben
wird und damit auch die Geschichtlichkeit des in Frage stehenden Textes
verloren geht. Aus dem Text abgeleitete „Werte“ gewinnen dann überzeitlichen
Charakter und Geltungsanspruch und verhindern letztlich beim Rezipienten
kritisches, gegenwarts- wie zukunftsorientiertes Bewusstsein.
Zum Problem der
„Horizontverschmelzung“ und des dabei anklingenden Geschichtsoptimismus sei
auf zwei Gesichtspunkte hingewiesen, die den methodischen Grundansatz
problematisch werden lassen könnten:
Zum einen handelt es sich um eine
rudimentär angelegte Geschichtslosigkeit. Der Werkhorizont wird zwar durch die
Wirkungsgeschichte erweitert / angereichert, kann aber als solcher nicht in
Frage gestellt werden. Damit verbunden ist zwangsläufig zum anderen eine
Negierung jeglicher Dialektik im historischen Prozess. Geschichte wird
verstanden als — wenn auch unter Umständen aufsteigende — lineare Abfolge von
Horizontverschmelzungen, wobei man meines Erachtens hinter den von Dilthey
erreichten Stand zurückgehend das Werk und seine originäre (an seine
ursprünglichen Leser gerichtete) Botschaft aus dem Blick verliert und unter
Absehen von allen soziokulturellen Implikationen ein „für alle Zeiten
Gültiges“ herausfiltert, eben einen Horizont, mit dem der Horizont des
gegenwärtigen Rezipienten, sieht man auch hier von soziokulturellen Kontexten
ab, verschmelzen kann.
Der Altphilologe H. Munding schlägt
hier als didaktisch relevante / vertretbare Alternative einen „existentiellen
Transfer“
vor, ausgehend von der Überlegung, dass bestimmte Vorstellungen
der Antike „auch für den heutigen Menschen noch wichtig werden können. Dieser
Fall (also genau genommen das Wichtig-Werden, nicht das Wichtig-Sein) wird
allerdings erst bei einer bestimmten Art von interpretatorischer Bemühung
eintreten.“
Dabei muss es vor allem darum gehen, „die antiken Vorstellungen
in unsere eigene Wirklichkeit gewissermaßen ‚umzudenken“.
Munding dokumentiert seine Ansichten mit zwei Beispielen, deren Analyse zeigt,
dass es ihm a) um eine Rekonstruktion der originären Textbotschaft und b) um
einen Strukturvergleich, d. h. um die Suche nach homologen Entsprechungen im
gegenwärtigen Horizont geht. Wesentlich scheint mit dabei, dass hier auf der
Ebene der die Textinhalte wie die Wirklichkeit organisierenden Strukturen
gearbeitet wird. (Munding spricht zwar von „Textinhalt“, verwendet den Begriff
aber in Opposition zu „Textform“ und meint, das zeigt seine Arbeitsweise, die
die Textinhalte organisierenden Strukturen.) Allerdings beschränkt sich
Munding auf das Arbeiten mit expositorischen Texten, deren Referentialität im
historischen Rekurs leichter zu rekonstruieren ist und deren originäre
Botschaft damit annähernd evident werden kann.