| |
4 Tragödie und das „verteufelt
Humane":
Klassik und Tragik
4.1 Erste Orientierungen
4.1.1 In der folgenden Sequenz werden Sie
sich mit zwei Dramen beschäftigen, die beide dem Bereich der „deutschen
Klassik" zugerechnet werden.
Sie sollten sich mit Hilfe einer
Literaturgeschichte einschlägige Informationen zum Thema „Klassik" sowie zu
den beiden Autoren Goethe und Schiller beschaffen.
4.1.2 Die Arbeit in dieser Sequenz könnte
methodisch folgendermaßen organisiert werden:
Alle Kursteilnehmer besorgen sich die
angesprochenen Informationen.
Alle Kursteilnehmer lesen beide Dramen
und führen dabei ein „Lesetagebuch", in dem sie alles notieren, was
ihnen bei der Lektüre auf- und einfällt, die Sym -und die Antipathien,
die Urteile und die Ablehnungen...
Es werden im Plenum erste
Vereinbarungen getroffen über entscheidende erste Zugriffe. (Im
Folgenden finden Sie hierzu einzelne Hinweise.)
Die zeitliche Dimensionierung wird
festgelegt. Auch einzuschaltende Plenumsphasen (Zwischenberichte usw.
...) werden vereinbart.
Arbeit in Gruppen: Jeder
Kursteilnehmer entscheidet sich für eines der beiden Dramen. Die Dramen
werden in zwei Großgruppen erarbeitet. Anhand der Arbeitshinweise und
Sekundärtexte, die sich im Folgenden finden, könnten die Großgruppen die
Arbeit weiter aufteilen auf Kleingruppen. Dabei wird darauf zu achten
sein, dass die Ergebnisse immer wieder zusammengeführt, geordnet und
integriert werden. Selbstverständlich können die zuständigen Gruppen
über die angebotenen Texte und Anregungen hinaus weitere Texte
heranziehen und weitere Problemfelder bearbeiten.
Im Plenum werden die Ergebnisse
präsentiert. Die Großgruppen stellen ihre Ergebnisse vor. (In diesem
Zusammenhang kann gegebenenfalls der Kursrahmen überschritten werden:
Dokumentation / Präsentation für den Gesamtjahrgang...die
Oberstufe...den Elternabend...)
Im Anschluss an die
Ergebnispräsentation könnte eine mehr produktive Phase eröffnet werden.
Diese Phase wäre in drei Schritten durchzuführen:
a) Im Plenum werden erste Konzepte
mit Hilfe der hier angebotenen Hinweise und Vorschläge entwickelt.
b) Neu formierte Gruppen erarbeiten
die Strategien und Voraussetzungen für den Abschluss
c) Abschlusspräsentationen und
Verhandlungen usw. ...
1.3 Allgemeine Hinweise
Schon bei der Lektüre der jeweiligen
Stücke sollten Sie sich Notizen machen. Sie sollten ihre Eindrücke, Ihre
Sympathien und Antipathien festhalten.
Die Arbeit in Ihrer Gruppe lässt sich
generell in drei Phasen gliedern. Alle drei Phasen werden im Gespräch
eröffnet. Dabei wird auszuhandeln sein, welche Wege bei der Bearbeitung der
einzelnen Probleme zu gehen sind.
Die folgenden Mindmaps stellen Vorschläge
dar, die natürlich ergänzt und modifiziert werden können. Sie müssen nicht
alles, was da vorgeschlagen wird, übernehmen. Sie können Schwerpunkte
setzen, auswählen. Sie sollten aber darauf achten, dass das je zu
verhandelnde Drama nicht aus dem Blick gerät. Die Arbeitsvorschläge, Texte
usw., die Sie anschließend finden, sollten Sie in jedem Fall
berücksichtigen. Sie werden dort weitere Hinweise finden. Allerdings: Sie
sollten während des Arbeitens immer wieder mal einen Blick zurück auf die
Mindmaps werfen. Vielleicht können Sie doch den einen oder anderen Vorschlag
aufgreifen und weiter verfolgen.
1.4 Phasengliederung des Arbeitens
Einstieg/Eröffnung
Am besten wird es wohl sein, wenn Sie zu
den einzelnen erkennbaren Aspekten, Perspektiven, Punkten usw. zunächst
einmal Ideen sammeln. Sie könne auch weitere Äste einführen bzw. den freien
Ast ergänzen. Wichtig ist, dass Sie sich zunächst einmal auf einige Punkte
einigen und dann im Gespräch sich dem jeweiligen Problem widmen.
Zweite Phase: Die Durchführung
Natürlich gibt es ganz verschiedene
Möglichkeiten, sich mit einem Drama auseinanderzusetzen. Das kenne Sie
schon. Hier werden Ihnen vier grundverschiedene Ansätze angeboten. Sie
werden wohl mischen und einzelne Perspektiven und Aspekte, die Ihnen
besonders tragfähig erscheinen, auswählen.
Dritte Phase: Abschluss:
Hier geht es vor allem darum, die
erzielten Ergebnisse, die gewonnenen Erkenntnisse usw. „präsentationsreif"
zu machen. Allerdings: Ehe die Ergebnisse selbst greifbar werden, müssen sie
selbst „auf den Punkt gebracht" werden. Im Mindmap finden Sie dazu einige
Vorschläge.
Sollten Sie mit dem einen oder anderen
Begriff nicht klarkommen, fragen Sie ruhig Ihren Lehrer.
4.2 Friedrich Schiller: Don Carlos
4.2.1 Eröffnung/Problemabgrenzungen
1 Sprechen Sie miteinander über Ihre ersten
Eindrücke. Beachten Sie auch das erste Mindmap im ersten Teil.
2 Worum geht es letztlich im „Don Carlos"? Halten Sie
die verschiedenen Meinungen fest. Der folgende Text bietet einige
Deutungsansätze, die Sie in Ihr Gespräch aufnehmen könnten.
Text K1
Worum geht es eigentlich in diesem ersten
klassischen Drama Schillers mit seiner komplizierten Entstehungsgeschichte,
einer Zeitschriftenfassung (Thalia, 1786/87, bis zum 9. Auftritt des 3.
Akts) und vier Buchfassungen (1787, 1801, 1802, 1805)? Im Rahmen
literaturhistorischer Wirkungsabläufe pflegen sich durch Jahrzehnte hindurch in
der Regel Übereinkünfte auszubilden, die um so hartnäckiger sind, je höher ein
Werk in der literarischen Rangskala steht. Innerhalb der Karlos-Literatur
hat sich vor allem die Ansicht verfestigt, daß sich das Drama von einem
,,Familiengemälde in einem fürstlichen Hauße" zu einer politischen Tragödie
gewandelt habe. Zwei andere Auffassungen sind ebenfalls immer wieder geäußert
worden, haben sich letztlich aber nicht in der Breite durchsetzen können wie die
vom Wandel des Stoffes zum politischen Drama: die Auffassung vom »Ideendrama«,
die in seinem Verfasser vor allem den Idealisten sah, und die vom
Freundschaftsdrama, die sich im wesentlichen auf Schillers Briefe über Don
Karlos stützen konnte. Vollständig zu dominieren vermochte allerdings keine
dieser Deutungen, und das hat schon früh dazu geführt, daß man im Don Karlos
eine bunte Mischung von allem sah. Das Gewissen als Instanz politischer
Entscheidungen und der Freiheitskrieg der Völker, realistische Politik und die
Idee der Freundschaft, die Nemesis und die Menschheitsidee: das alles hat man
gelegentlich zusammen aus dem Karlos herausgelesen, und im Zeitalter der
synthetischen Interpretationen hat man das Heil in der Vielfalt gesehen und die
Forderung des Methodenpluralismus auf eine Weise zu verwirklichen versucht, die
nicht selten auf eine coincidentia oppositorum hinauslief. Aber ist die
gelegentlich geäußerte Feststellung, daß wir es hier mit einer vierfachen
Tragödie zu tun haben, tatsächlich ein Interpretationsgewinn? Oder haben wir es
hier nicht vielmehr mit einer interpretatorischen Bankrotterklärung zu tun, die
das eigentlich Unvereinbare dennoch zusammenbringen will? Wo anders als im Kopf
des Interpreten verträgt sich das politische Drama mit der Freundschaftstragödie
und die Liebesgeschichte mit der sittlichen Gewissensentscheidung?
Textschnitt aus: Helmut Koopmann: Don Karlos; in:
Walter Hinderer (Hrsg.): Schillers Dramen. Neue Interpretationen.
Stuttgart: Reclam 1979; S.87 (Anmerkungen getilgt)
2 Versuchen Sie eine erste
Gesamtbeurteilung des Stückes sowie der einzelnen Figuren zu formulieren.
(Fertigen Sie ein Stichwortprotokoll Ihres Gesprächs an.)
Wenn Sie zu gegensätzlichen Beurteilungen einzelner
Figuren (etwa des Marquis Posa, des Königs usw.) kommen, sollten Sie nicht
versuchen, jetzt schon eine einheitliche Beurteilung zu formulieren. Es wäre
besser, sie grenzten die verschiedenen Positionen genauer ab und hielten sie
fest.
3 Verständigen Sie sich über
die zentralen Probleme, die Ihnen behandelnswert erscheinen. Ins Auge fassen
könnten Sie z.B.:
Carlos - eine labile Memme ohne Konzept?
Posa - ein gescheiterter Idealist?
Philipp - ein starrer Tyrann?
Macht und Idee sind nicht zu vereinigen.
Vater und Sohn geraten grundsätzlich immer in
Konflikt, nicht nur wenn es um die Macht geht.
4 Schiller legt im „Don Carlos"
ein Drama vor, von dem er selbst überzeugt ist, dass es so wohl unspielbar
sei, schon wegen der Länge, aber auch wegen einiger sprachliche Probleme.
Überlegen Sie: Was mag Schiller mit diesem Drama beabsichtigt haben? Welche
Ideen hat er wohl verfolgt? Welche Konflikt-Ursachen sieht er? Wie möchte er
die Konflikte gelöst haben? (Notieren Sie Ihre Hypothesen!)
5 Im folgenden Text macht sich
Schiller Gedanken zur Aufgabe, die Kunst zu erfüllen hat.
Hinweise zur Textarbeit:
- Was ist nach Schiller die Aufgabe der Kunst?
- In welchem Verhältnis steht die Kunst zur Realität?
(Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die Phänomene?)
- Wie will Schiller die Aufgabe der Kunst
verwirklichen?
- Welche Bedingungen muss Kunst erfüllen?
- Was muss der Rezipient beachten?
- Warum kann kein einziges Element der Wirklichkeit
direkt in ein Kunstwerk übernommen werden, ohne dass das Kunstwerk zerstört
würde?
Text K2
Friedrich Schiller: Über den Gebrauch des
Chors in der Tragödie
Die wahre Kunst aber hat es nicht bloß auf
eine vorübergehendes Spiel abgesehen, es ist ihr Ernst damit, den Menschen nicht
bloß in einen augenblicklichen Raum von Freiheit zu versetzen, sondern ihn
wirklich und in der Tat frei zu machen, und dies dadurch, daß sie eine Kraft in
ihm weckt, übt und ausbildet, die sinnliche Welt, die sonst nur als ein roher
Stoff auf uns lastet, als eine blinde Macht auf uns drückt, in eine objektive
Ferne zu rücken, in ein freies Werk unseres Geistes zu verwandeln und das
Materielle durch Ideen zu beherrschen.
Und eben darum, weil die wahre Kunst etwas
Reelles und Objektives will, so kann sie sich nicht bloß mit dem Schein der
Wahrheit begnügen; auf der Wahrheit selbst, auf dem festen und tiefen Grunde der
Natur errichtet sie ihr ideales Gebäude.
Wie aber nun die Kunst zugleich ganz ideell
und doch im tiefsten Sinne reell sein - wie sie das Wirkliche ganz verlassen und
doch aufs genaueste mit der Natur übereinstimmen soll und kann, das ists, was
wenige fassen, was die Ansicht poetischer und plastischer Werke so schielend
macht, weil beide Forderungen einander im gemeinen Urteil geradezu aufzuheben
scheinen.
[...]
Die Natur selbst ist nur eine Idee des
Geistes, die nie in die Sinne fällt Unter der Decke der Erscheinungen liegt sie,
aber sie selbst kommt niemals zur Erscheinung. Bloß der Kunst des Ideals ist es
verliehen, oder vielmehr, es ist ihr aufgegeben, diesen Geist des Alls zu
ergreifen und in eine körperliche Form zu binden. Auch sie selbst kann ihn zwar
nie vor die Sinne, aber doch durch ihre schaffende Gewalt vor die
Einbildungskraft bringen und dadurch wahrer sein als alle Wirklichkeit und
realer als alle Erfahrung. Es ergibt sich daraus von selbst, daß der Künstler
kein einziges Element aus der Wirklichkeit brauchen kann, wie er es findet, daß
sein Werk in allen Teilen ideell sein muß, wenn es als ein Ganzes Realität haben
und mit der Natur übereinstimmen soll.
[...]
Der bildenden Kunst gibt man zwar notdürftig,
doch mehr aus konventionellen als aus inneren Gründen, eine gewisse Idealität
zu, aber von der Poesie und von der dramatischen insbesondere verlangt man
Illusion, die, wenn sie auch wirklich zu leisten Ware, immer nur ein armseliger
Gauklerbetrug sein würde. Alles Äußere bei einer dramatischen Vorstellung steht
diesem Begriff entgegen - alles ist nur ein Symbol des Wirklichen. Der Tag
selbst auf dem Theater ist nur ein künstlicher, die Architektur ist nur eine
symbolische, die metrische Sprache selbst ist ideal, aber die Handlung selbst
soll nun einmal real sein und der Teil das Ganze zerstören...
Textschnitt aus: Friedrich Schiller: Über den
Gebrauch des Chors in der Tragödie; in: Gerhard Fricke, Herbert G.Göpferet
(Hrsg.): Friedrich Schiller: Sämtliche Werke.; München: Carl Hanser Verlag
4.Aufl. 1965 Zweiter Band S. 1275 ff.
6 Die folgende Skizze versucht die Gedankenstruktur des
Textes allgemein darzustellen. Formulieren Sie die Zusammenhänge mit eigenen
Worten.
Überlegen Sie: Was bedeuten diese
Überlegungen für das Stück „Don Carlos" (Für Stoff und Geschichte? für
Figuren? Für die Sprachform?)?
4.2.2 Wer ist der Held im „Don Carlos"?
1 Untersuchen
Sie zunächst die als „Helden" in Frage kommenden Figuren und ihre
Eigenschaften:
- Don Carlos
- Philipp II
- Posa
2 Beschreiben Sie
auch die Beziehungen zwischen diesen Figuren. Der folgende Text kann Ihnen
einige Hilfen bieten:
Text K3
Die zentralen Figuren*
Soviel man gegen den dramatischen
Aufbau und die einzelnen Phasen der dramatischen Verwicklung und Motivierung
auch einwenden kann, ,,Don Carlos" bleibt ein Meisterwerk dank der
wechselseitigen Anziehung und Abstoßung der vier Gestalten Carlos, Posa, Philipp
und Elisabeth. Denn in ihnen gelangt die Vielschichtigkeit von sittlicher
Gewissensentscheidung und historischer Notwendigkeit, von Freiheit der Völker
und staatlicher Macht, von ideeller Glaubenskraft und realistischer Politik zum
Durchbruch. Da haben wir Posa, den Malteserritter, der die wirkliche Welt - nach
Schillers Deutung in seinen ,,Briefen über Don Carlos" - von ,,einem zu
erreichenden Ideal von Vortrefflichkeit" her meistern möchte, den großen
Menschenspieler und Menschenformer, der am Ende scheitert und in erhabener
Zweideutigkeit dieses Scheitern in ein Opfer, das Opfer seines Lebens
verwandelt. Da haben wir den Prinzen Carlos, der in leidenschaftlicher
Ichbesessenheit um Liebe und Freundschaft wirbt und dennoch am Ende angesichts
des toten Freundes sein Leben wagt um der ,,Idee" willen, die ihm als
,,enthusiastischer Entwurf'„ von jenem hinterlassen wurde. Da haben wir die
Königin, Schillers erste wahrhaft durchempfundene Frauengestalt, die unter dem
lastenden Himmel von Madrid nicht zu atmen wagt, zwischen die furchtbare
Rivalität von Vater und Sohn gestellt, die sich nicht nur auf sie, sondern auch
auf den gemeinsamen Freund Marquis Posa richtet. Da haben wir schließlich als
eine der größten Eingebungen des Dramatikers Schiller die tragische Figur des
großen Königs, um den am Ende die ,,Ruhe eines Kirchhofs" ist und der das
Schicksal der Könige ertragen muß, mit sich selbst allein zu sein. Nirgends ist
im deutschen Drama die Grenze einer nur auf der Macht aufgebauten Position so
sichtbar gemacht worden wie hier.
(Text
aus: Benno von Wiese: Schiller; Stuttgart: Reclam 1955, S.35 f.)
3 Überlegen
Sie: Woran orientieren sich die Figuren? Welche Maximen bestimmen ihr
Handeln?
- Welche Konsequenzen ergeben sich für
Philipp aus seinem Königtum? Welche Ansprüche repräsentiert er im Stück?
(Beachten Sie in diesem Zusammenhang auch, wie am Ende der Großinquisitor
die Rolle Philipps interpretiert.
- bei Posa werden Sie zu fragen haben
nach der Sicht der anderen: Wie sieht die Königin den Marquis? Wie sieht
Philipp ihn? Wie stellt er sich für Carlos dar? Fragen Sie in diesem
Zusammenhang auch nach Möglichen Veränderungen der jeweiligen Einstellung.
- Bei Carlos wird zu fragen sein:
Welche Motive bestimmen sein Verhalten gegenüber Posa?
Die folgende Skizze bietet Ihnen einen
Rahmen, den Sie ausfüllen sollten.
4 Untersuchen Sie:
- In welchen Schritten und aus welchen Perspektiven strebt
Posa die Idee der Freiheit an?
- Welche Aspekte spielen für Carlos im Zusammenhang mit
der Freundschaft eine Rolle?
- Was bedeutet für Philipp die „Idee der Allmacht"?
4.2.3 Die einzelnen Figuren - genauer befragt
4.2.3.1 Posa, der Idealist - oder: Zur Psyche des
fanatischen Idealisten aus der Sicht Schillers
In einer Reihe von Briefen hat sich Schiller zu seinem
Stück und vor allem zur Figur des Posa geäußert. Hier einige Auszüge:
Text K4
Zweiter Brief
Der Charakter des Marquis Posa ist fast
durchgängig für zu idealisch gehalten worden; inwiefern diese Behauptung Grund
hat, wird sich dann am besten ergeben, wenn man die eigentümliche Handlungsart
dieses Menschen auf ihren wahren Gehalt zurückgeführt hat. Ich habe es hier, wie
Sie sehen, mit zwei entgegengesetzten Parteien zu tun. Denen, welche ihn aus der
Klasse natürlicher Wesen schlechterdings verwiesen haben wollen, müßte also
dargetan werden, inwiefern er mit der Menschennatur zusammenhängt, inwiefern
seine Gesinnungen wie seine Handlungen aus sehr menschlichen Trieben fließen und
in der Verkettung äußerlicher Umstände gegründet sind; diejenigen, welche ihm
den Namen eines göttlichen Menschen geben, brauche ich nur auf einige Blößen an
ihm aufmerksam zu machen, die gar sehr menschlich sind.
[...]
Was man gegen diesen Charakter aus dem
Zeitalter einwendet, in welchem ich ihn auftreten lasse, dünkt mir vielmehr für
als wider ihn zu sprechen. Nach dem Beispiel aller großen Köpfe entsteht er
zwischen Finsternis und Licht, eine hervorragende isolierte Erscheinung. Der
Zeitpunkt, wo er sich bildet, ist allgemeine Gärung der Köpfe, Kampf der
Vorurteile mit der Vernunft, Anarchie der Meinungen, Morgendämmerung der
Wahrheit - von jeher die Geburtsstunde außerordentlicher Menschen. Die Ideen von
Freiheit und Menschenadel, die ein glücklicher Zufall, vielleicht eine günstige
Erziehung in diese reinorganisierte empfängliche Seele warf, machen sie durch
ihre Neuheit erstaunen und würken mit aller Kraft des Ungewohnten und
Überraschenden auf sie; [...] Seine Seele fühlt sich in diesen Ideen gleichsam
wie in einer neuen und schönen Region, die mit allem ihrem blendenden Licht auf
sie wirkt und sie in den lieblichsten Traum entzückt. Das entgegengesetzte Elend
der Sklaverei und des Aberglaubens zieht sie immer fester und fester an diese
Lieblingswelt; die schönsten Träume von Freiheit werden ja im Kerker geträumt.
Sagen Sie selbst, mein Freund - das kühnste Ideal einer Menschenrepublik,
allgemeiner Duldung und Gewissensfreiheit, wo konnte es besser und wo
natürlicher zur Welt geboren werden als in der Nähe Philipps II. und seiner
Inquisition?
Alle Grundsätze und Lieblingsgefühle des
Marquis drehen sich um republikanische Tugend. Selbst seine Aufopferung
für seinen Freund beweist dieses, denn Aufopferungsfähigkeit ist der Inbegriff
aller republikanischen Tugend.
[...]
Zwei Handlungen des Marquis sind es
vorzüglich, an denen man, wie Sie mir sagen, Anstoß genommen hat. Sein Verhalten
gegen den König in der roten Szene des dritten Aufzugs und die Aufopferung für
seinen Freund. Aber es könnte sein, daß die Freimütigkeit, mit der er dem Könige
seine Gesinnungen vorträgt, weniger auf Rechnung seines Muts als seiner genauen
Kenntnis von jenes Charakter käme, und mit aufgehobener Gefahr würde sonach auch
der Haupteinwurf gegen diese Szene gehoben.
Text aus: Gerhard Fricke, Herbert G.Göpferet
(Hrsg.): Friedrich Schiller: Sämtliche Werke.; München: Carl Hanser Verlag
4.Aufl. 1965 Zweiter Band S. 227 ff.
Eilfter Brief
Ehe ich mich auf immer von unserm Freunde Posa
verabschiede, noch ein paar Worte über sein rätselhaftes Benehmen gegen den
Prinzen und über seinen Tod.
Viele nämlich haben ihm vorgeworfen, daß er,
der von der Freiheit so hohe Begriffe hegt und sie unaufhörlich im Munde führt,
sich doch selbst einer despotischen Willkür über seinen Freund anmaße, daß er
ihn blind, wie einen Unmündigen, leite und ihn eben dadurch an den Rand
des Untergangs führe. Womit, sagen sie, läßt es sich entschuldigen, daß Marquis
Posa, anstatt dem Prinzen geradeheraus das Verhältnis zu entdecken, worin er
jetzt mit dem Könige steht, anstatt sich auf eine vernünfiige Art mit ihm über
die nötigen Maßregeln zu bereden und, indem er ihn zum Mitwisser seines Planes
macht, auf einmal allen Übereilungen vorzubeugen, wozu Unwissenheit, Mißtrauen,
Furcht und unbesonnene Hitze den Prinzen sonst hinreißen könnten und auch
wirklich nachher hingerissen haben, daß er, anstatt diesen so unschuldigen, so
natürlichen Weg einzuschlagen, lieber die äußerste Gefahr läuft, lieber diese so
leicht zu verhütenden Folgen erwartet und sie alsdann, wenn sie wirklich
eingetroffen, durch ein Mittel zu verbessern sucht, das ebenso unglücklich
ausschlagen kann, als es brutal und unnatürlich ist, nämlich durch die
Verhaftnehmung des Prinzen? Er kannte das lenksame Herz seines Freundes. Noch
kürzlich ließ ihn der Dichter eine Probe der Gewalt ablegen, mit der er solches
beherrschte. Zwei Worte hätten ihm diesen widrigen Behelf erspart. Warum nimmt
er seine Zuflucht zur Intrige, wo er durch ein gerades Verfahren ungleich
schneller und ungleich sicherer zum Ziele würde gekommen sein?
Weil dieses gewalttätige und fehlerhafte
Betragen des Maltesers alle nachfolgende Situationen und vorzüglich seine
Aufopferung herbeigeführt hat, so setzte man, ein wenig rasch, voraus, daß sich
der Dichter von diesem unbedeutenden Gewinn habe hinreißen lassen, der inneren
Wahrheit dieses Charakters Gewalt anzutun und den natürlichen Lauf der Handlung
zu verlenken.
[...]
Unstreitig! der Charakter des Marquis von Posa
hätte an Schönheit und Reinigkeit gewonnen, wenn er durchaus gerader
gehandelt hätte und über die unedlen Hülfsmittel der Intrige immer erhaben
geblieben wäre. Auch gestehe ich, dieser Charakter ging mir nahe, aber, was ich
für Wahrheit hielt, ging mir näher. Ich halte für Wahrheit, ,,daß Liebe
zu einem wirklichen Gegenstande und Liebe zu einem Ideal sich in ihren
Wirkungen ebenso ungleich sein müssen, als sie in ihrem Wesen voneinander
verschieden sind - daß der uneigennützigste, reinste und edelste Mensch aus
enthusiastischer Anhänglichkeit an seine Vorstellung von Tugend und
hervorzubringendem Glück sehr oft ausgesetzt ist, ebenso willkürlich mit den
Individuen zu schalten als nur immer der selbstsüchtigste Despot, weil der
Gegenstand von beider Bestrebungen in ihnen, nicht außer ihnen
wohnt und weil jener, der seine Handlungen nach einem innern Geistesbilde
modelt, mit der Freiheit anderer beinahe ebenso im Streit liegt als dieser,
dessen letztes Ziel sein eigenes Ich ist". Wahre Größe des Gemüts führt
oft nicht weniger zu Verletzungen fremder Freiheit als der Egoismus und
dieHerrschsucht, weil sie um der Handlung, nicht um des einzelnen Subjekts
willen handelt. Eben weil sie in steter Hinsicht auf das Ganze wirkt,
verschwindet nur allzu leicht das kleinere Interesse des Individuums in diesem
weiten Prospekte. Die Tugend handelt groß um des Gesetzes
willen;
[...]
Geräuschlos, ohne Gehülfen, in stiller Größe
zu wirken, ist des Marquis Schwärmerei; Still, wie die Vorsicht für einen
Schlafenden sorgt, will er seines Freundes Schicksal auflösen, er will ihn
retten, wie ein Gott - und eben dadurch richtet er ihn zugrunde. Daß er zu sehr
nach seinem Ideal von Tugend in die Höhe und zu wenig auf seinen Freund
herunterblickte, wurde beider Verderben. Garlos verunglückte, weil sein Freund
sich nicht begnügte, ihn auf eine gemeine Art zu erlösen.
[...]
Diese meine ich, daß man sich in moralischen
Dingen nicht ohne Gefahr von dem natürlichen praktischen Gefühl enrfernt, um
sich zu allgemeinen Abstraktionen zu erheben, daß sich der Mensch weit sicherer
den Eingebungen seines Herzens oder dem schon gegenwärtigen und individuellen
Gefühle von Recht und Un~ recht vertraut als der gefährlichen Leitung
universeller Vernunftideen, die er sich künstlich erschafien hat - denn nichts
führt zum Guten, was nicht natürlich ist.
Text aus: Gerhard Fricke, Herbert G.Göpferet
(Hrsg.): Friedrich Schiller: Sämtliche Werke.; München: Carl Hanser Verlag
4.Aufl. 1965 Zweiter Band S. 258 ff.
1 Hinweise zur Textarbeit:
- Welche Einwände machen die
zeitgenössischen Kritiker gegen Posa?
- Was führt Schiller als Gründe für die
Anlage der Figur an?
- Welche moralischen Wertungen nimmt
Schiller vor?
2 Diskutieren Sie in diesem Zusammenhang
die Frage: Ist die reine Idee als Handlungsmaxime wünschenswert?
3 Bereiten
Sie eine Podiumsdiskussion vor zur Tagebucheintragung von Max Frisch:
- Man kann darauf bedacht sein, das
Gute durchzusetzen und zu verwirklichen, oder man kann darauf bedacht
sein, ein guter Mensch zu werden - das ist zweierlei, es schließt sich
gegenseitig aus.
Zum Verhältnis Posa - Carlos äußert sich
Schiller selbst:
Text K5
Dritter Brief
Sie wollten neulich im Don Carlos den Beweis
gefunden haben, daß leidenschaftliche Freundschaft ein ebenso rührender
Gegenstand für die Tragödie sein könne als leidenschaftliche Liebe, ...
Also auch Sie nehmen es, wie die meisten meiner Leser, als ausgemacht an, daß es
schwärmerische Freundschaft gewesen, was ich mir in dem Verhältnis
zwischen Carlos und Marquis Posa zum Ziel gesetzt habe? ... Wenn es aus dem
ganzen Zusammenhang deutlich erhellte, daß sie dieses Ziel nicht gewesen
und auch schlechterdings nicht sein konnte? ...
Die erste Ankündigung des Verhältnisses
zwischen diesen beiden könnte irregeführt haben; aber dies auch nur scheinbar,
und eine geringe Aufmerksamkeit auf das abstechende Benehmen beider hätte
hingereicht, den Irrtum zu heben. Dadurch, daß der Dichter von ihrer
Jugendfreundschaft ausgeht, hat er sich nichts von seinem höhern Plane vergeben,
im Gegenteil konnte dieser aus keinem bessern Faden gesponnen werden. Das
Verhältnis, in welchem beide zusammen auftreten, war Reminiszenz ihrer früheren
akademischen Jahre. ... Aber auch schon in diesen früheren Zeiten ist der Ernst
dieses Charakters in einigen Zügen sichtbar; schon hier ist Posa der kältere,
der spätere Freund, und sein Herz, jetzt schon zu weit umfassend, um sich für
ein einziges Wesen zusammenzuziehen, muß durch ein schweres Opfer errungen
werden.
Hier schon sind einige Winke gegeben, wie
wenig die Anhänglichkeit des Marquis an den Prinzen auf persönliche
Übereinstimmung sich gründet. Frühe denkt er sich ihn als Königssohn,
frühe drängt sich diese Idee zwischen sein Herz und seinen bittenden Freund.
~Carlos öffnet ihm seine Arme; der junge Weltbürger kniet vor ihm nieder.
Gefühle für Freiheit und Menschenadel waren früher in seiner Seele reif als
Freundschaft für Carlos; dieser Zweig wurde erst nachher auf diesen stärkern
Stamm gepfropft. Selbst in dem Augenblick, wo sein Stolz durch das große Opfer
seines Freundes bezwungen ist, verliert er den Fürstensohn nicht aus den Augen.
,,Ich will bezahlen«, sagt er, ,,wenn Du - König bist." ... Also auch
damals schon war es weniger Liebe als Dankbarkeit, weniger Freundschaft als
Mitleid, was den Marquis dem Prinzen gewann. ... Ein Geist wie Posa mußte
seine Überlegenheit frühzeitig zu genießen streben, und der liebevolle Karl
schmiegte sich so unterwürfig, so gelehrig an ihn an! Posa sah in diesem schönen
Spiegel sich selbst und freute sich seines Bildes. So entstand diese akademische
Freundschaft.
Text aus: Gerhard Fricke, Herbert G.Göpferet
(Hrsg.): Friedrich Schiller: Sämtliche Werke.; München: Carl Hanser Verlag
4.Aufl. 1965 Zweiter Band S. 230 ff.
4 Was macht nach Schiller den Kern der Beziehung zwischen
den beiden aus? Unterscheiden Sie: Was bedeutet die Beziehung für Carlos?
Wie sieht sie Posa?
5 Beschreiben Sie genauer den Lebensweg der beiden
Figuren.
- Beschreiben Sie die Situation und die Haltung beider
beim ersten Zusammentreffen (I.2)
- Beschreiben Sie die Intentionen, die Posa verfolgt (I.9
und vor allem II,15)
- Was erwartet Carlos von Posa?
- Wie entwickelt sic h das Verhältnis weiter?
6 Diskutieren Sie die Frage: Posa, ein Freund des
Infanten?
4.2.3.2 Das Verhältnis Posa - Philipp
1 Beschreiben Sie die Situation, in der beide aufeinander
treffen.
- Wie ist ihre „Stellung"?
- Was erwarten sie voneinander?
2 Versetzen Sie sich in die Rollen der Figuren Philipp und
Posa:
- Entwerfen Sie einen Monolog Philipps vor dem Auftritt
Posas.
- Entwerfen Sie in gleicher Weise einen Monolog Posas.
- Führen Sie ein Rollengespräch zwischen beiden. Überlegen
Sie vorher: Welche Ziele verfolgen beide? Welche Ansprüche bringen diese
Ziele mit? Welche Gefahren stehen diesen Zielen entgegen.
-Entwerfen Sie einen Monolog Philipps nach dem Gespräch
mit Posa.
- Entwerfen Sie einen Monolog Posas nach diesem Gespräch.
3 Angenommen: Philipp hätte den Großinquisitor unmittelbar
nach dem Gespräch mit Posa getroffen: Wie wäre dann ein Gespräch zwischen
beiden verlaufen?
4 Entwerfen Sie einen Brief Posas an seine politischen
Freunde in den Niederlanden, in dem er seine neuen Erfahrungen, Hoffnungen
usw. mitteilt.
5 Stellen Sie vergleichend gegenüber:
6 Beschreiben Sie die Konzepte beider Figuren
- hinsichtlich des Staates;
- hinsichtlich der Rolle des Menschen in diesem Staat;
- hinsichtlich der Bedeutung von Menschlichkeit.
Bedenken Sie auch: Was fordern beide jeweils vom
Herrscher? Welche Folgerungen er geben sich daraus?
7 Angenommen, dem Großinquisitor gelingt es, Posa vor ein
Gericht zu stellen:
-Verfassen Sie eine Anklageschrift aus der Perspektive des
Großinquisitors.
- Entwerfen Sie eine Verteidigungsrede des Posa.
8 Beschreiben Sie mit Hilfe des folgenden Textes die
historische Dimension des Schillerschen Konzepts,. wie es Posa vertritt.
Text K6
Posas politische Grundsätze drehen sich um
,,republikanische Tugenden", und seine ,,Ideen von Freiheit und Menschenadel"
fallen bei seinem Freund Carlos in eine empfängliche Seele. Ihr gemeinsamer
Traum ist ,,das kühnste Ideal einer Menschenrepublik, allgemeiner Duldung und
Gewissensfreiheit" (II, 229). Das sind zweifellos zeitgenössische Ideen, deren
Herkunft auf die englische und französische Aufklärung zurückgeht. Daß Schiller
diese politische Philosophie im Konflikt mit dem Inquisitionsstaat Philipps II.
darstellt, mag für manche Deuter selbst heute noch ,,ein gotisches Ansehen"
haben, wie es Schiller selbst antizipierte, aber gerade darin liegt die
universalgeschichtliche Dimension des Dramas. Der Zusammenstoß von
kirchlich-feudalistischem Absolutismus und bürgerlich humanitären Ideen wird auf
die Anfänge der bürgerlich-republikanischen Emanzipationsbewegung des 16.
Jahrhunderts projiziert, denn nicht umsonst bildet die niederländische
Befreiungsbewegung den Hintergrund für das Drama. ,,Das Verhältnis eines
historischen Datums zu der heutigen Weltverfassung ist es also, worauf
gesehen werden muß" (IV, 762), so die Maxime des Universalhistorikers, die mit
der Absicht des Dramatikers übereinstimmt, die bürgerlichen Ideale des 18.
Jahrhunderts im niederländischen Aufstand und am spanischen Hof historisierend
zu konkretisieren. Anders läßt sich die bekannte Stelle des achten Briefes über
Don Carlos nicht verstehen. Nachdem er nämlich Liebe und Freundschaft als
einheitsstiftende Ideen für das Drama verworfen hat, betont er, das Stück handle
,,über einen Lieblingsgegenstand unsers Jahrzehnts - über Verbreitung reinerer,
sanfterer Humanität, über die höchstmögliche Freiheit der Individuen bei
des Staates höchster Blüte" (II, 251). Posas Traum vom ,,Bürgerglück versöhnt
mit Fürstengröße" war in der Epoche des aufgeklärten Absolutismus eine konkrete
Utopie, an die Schiller seine Zeitgenossen durch das Drama erinnerte. Er
gestaltete Ideen ,,unsers Jahrzehnts", projizierte sie in die Vergangenheit, um
einen Vorschein auf den ,,vollendetsten Zustand der Menschheit" zu geben (II,
251). Bezeichnenderweise sollte dieser Zustand durch einen aufgeklärten
Monarchen für das Bürgertum herbeigeführt werden, ,,einen Fürsten, der das
höchste mögliche Ideal bürgerlicher Glückseligkeit für sein Zeitalter
wirklichmachen sollte" (II, 253). Doch der Dolch der Tragödie richtete sich
gegen jene menschenverachtenden Institutionen und Despoten, die Gedankenfreiheit
und Bürgerglück noch im ,,aufgeklärten" 18. Jahrhundert verachteten und
unterdrückten.
Text aus: Klaus L. Berghahn: Zum Drama
Schillers; in: Walter Hinck (Hrsg.): Handbuch des deutschen Dramas; Düsselddorf,
Bagel 1980, S.1167 f.
9 Beschreiben Sie genauer die „menschliche Tragödie" von
der Lukács im folgenden Text spricht.
Text K8
Georg Lukács :
,,Seine [Schillers] Konzeption des Königs
Philipp ist die menschliche Tragödie, der innere menschliche Zusammenbruch des
absoluten Monarchen, ein Zusammenbruch, der durch die notwendige Auswirkung der
gesellschaftlich-geschichtlich typischen Bestimmungen des Despotismus und nur
durch sie, nicht aber durch eine Bösartigkeit im Wesen des Königs als
menschlicher Person, hervorgerufen wird. Ist eine solche Kollision nicht
historisch? Sie ist es im tiefsten Sinne des Wortes, und sie bleibt es auch,
wenn weder der spanische König Philipp noch irgendein anderer absoluter Monarch
je in der Wirklichkeit eine solche Tragödie wirklich erlebt hat. Denn die
historische Notwendigkeit und die menschliche Möglichkeit dieser Tragödie sind
durch die geschichtliche Entwicklung selbst produziert worden. Wenn sie niemand
erlebt hat - was wir freilich nicht sicher wissen -, so nur darum, weil die
Menschen, die sich in dieser Lage befunden haben, menschlich zu minderwertig
gewesen sind, um eine solche Tragödie zu durchleben.
Freilich steckt in der Höhe und in der
Pathetik der Gestaltung dieser Kollision ein >notwendiger Anachronismus<, eine
Klarheit über die innere Problematik der absoluten Monarchie, die erst in der
Aufklärungszeit bewußt geworden ist. Das ist aber nicht von Schiller
ausgeklügelt worden. Wenn man etwa den Prinzen in Lessings >Emilia Galotti<
betrachtet, so sieht man klar, daß auch dieser große Aufklärer die absolute
Monarchie nicht bloß von außen bekämpfen wollte, sondern auch gezeigt hat, wie
dieses von der Geschichte zum Tode, zur revolutionären Zerstörung verurteilte
System mit geschichtlich-gesellschaftlicher Notwendigkeit seine eigenen
Vertreter menschlich-moralisch zugrunde richtet, sie in kleineren Fällen
moralisch deformiert und entarten läßt, in größeren zu tragischen Kollisionen,
zu tragischer Selbstzerfleischung führt. Einen monumentalen Fall dieser Art hat
Schiller in seinem >Don Carlos< gestaltet."
(Georg Lukács: Der historische Roman [1937].In: Georg Lnkács
Werke. Bd. 6. Probleme des Realismus III. Neuwied u. Berlin: Luchterhand
1965.5.200 f.)
10 Worin besteht die „innere Problematik der Monarchie"?
11 Vergleichen Sie nun unter der Leitidee
des folgenden Textes beide Figuren zusammenfassend.
Text K9
Philipp und Posa: parallele Figuren*
Der König ist die eigentliche tragische Figur
des Stückes. Er dürstet nach Menschen und ist zum Menschenverächter geworden.
Auch der Marquis Posa, der junge, ist ein Menschenverächter. Dieser, weil er
bereit ist, Menschen zu opfern um der >Menschheit< willen; jener aus bitterer
Erfahrung und um der Erhaltung des Staates willen. Zwei Generationen von
Menschenverächtern: die junge aus idealistischen Gründen, die alte aus Einblick
ins Leben. Menschenverächter sind sie, die Staatenlenker wie die
Freiheitskämpfer. Auch hier liegt die >Aktualität< auf der Hand.
Text aus einer Rezension von Piero Rismondo,
in: Die Presse, Wien 20.10.1972
4.2.4 Wenn Prinzipien in Konflikt geraten...
1 Philipp und Posa repräsentieren zwei Prinzipien, in
deren Spannungsfeld menschliche Beziehungen geraten. Überlegen Sie:
- Was will und sucht Carlos (bei Philipp? bei Posa? bei
der Königin?)
- Was sind die jeweiligen „Partner" bereit zu geben?
2 Beschreiben Sie die Entwicklung der Polarisierungen
- Was wird aus der Freundschaft?
- Was wird mit dem „Sohn"?
- Was wird aus der Liebe?
3 Diskutieren Sie die Frage: Wie entsteht in diesen
Zusammenhängen Tragik? Wie und wo stellt sich die Frage nach dem
Zusammenhang von Prinzip und Leben?
4.2.5 Don Carlos: Tragik und mehr
1 Beschreiben Sie genauer, wie Schiller die Figur des
Carlos angelegt hat.
- Notieren Sie die Stationen auf dem Lebensweg. Welche
Pflichten ergeben sich jeweils?
- Wo taucht der Konflikt mit dem Vater auf? Wie entwickelt
er sich?
- Wie entwickelt sich das Verhältnis zu Posa?
- Welche Veränderungen erfährt sein Verhältnis zur
Königin?
2 Untersuchen Sie die „Erziehungsarbeit", die Posa
leistet.
- Welche Intentionen verfolgt Posa?
- Hat die Arbeit (im Sinne Posas) Erfolg?
3 Diskutieren Sie die Frage: Ist Posa eine „tragische
Figur"? (Hinweis: Beachten Sie die gesamte Entwicklung der Figur!)
Text K10
Schiller: Über das
Erhabene
,,Kein Mensch muß müssen", sagt der Jude
Nathan zum Derwisch, und dieses Wort ist in einem weiteren Umfange wahr, als man
demselben vielleicht einräumen möchte. Der Wille ist der Geschlechtscharakter
des Menschen, und die Vernunft selbst ist nur die ewige Regel desselben.
Vernünftig handelt die ganze Natur; sein Prärogativ ist bloß, daß er mit
Bewußtsein und Willen vernünftig handelt. Alle andere Dinge müssen; der Mensch
ist das Wesen, welches will.
Eben deswegen ist des Menschen nichts so
unwürdig, als Gewalt zu erleiden, denn Gewalt hebt ihn auf. Wer sie uns antut,
macht uns nichts Geringeres als die Menschheit streitig; wer sie feigerweise
erleidet, wirft seine Menschheit hinweg. Aber dieser Anspruch auf absolute
Befreiung von allem, was Gewalt ist, scheint ein Wesen vorauszusetzen, welches
Macht genug besitzt, jede andere Macht von sich abzutreiben. Findet er sich in
einem Wesen, welches im Reich der Kräfte nicht den obersten Rang behauptet, so
entsteht daraus ein unglücklicher Widerspruch zwischen dem Trieb und dem
Vermögen.
In diesem Falle befindet sich der Mensch.
Umgeben von zahllosen Kräften, die alle ihm überlegen sind und den Meister über
ihn spielen, macht er durch seine Natur Anspruch, von keiner Gewalt zu erleiden.
Durch seinen Verstand zwar steigert er künstlicherweise seine natürlichen
Kräfte, und bis auf einen gewissen Punkt gelingt es ihm wirklich, physisch über
alles Physische Herr zu werden. Gegen alles, sagt das Sprichwort, gibt es
Mittel, nur nicht gegen den Tod. Aber diese einzige Ausnahme, wenn sie das
wirklich im strengsten Sinne ist, würde den ganzen Begriff des Menschen
aufheben. Nimmermehr kann er das Wesen sein, welches will, wenn es auch nur
einen Fall gibt, wo er schlechterdings muß, was er nicht will. Dieses
einzige Schreckliche, was er nur muß und nicht will, wird wie ein
Gespenst ihn begleiten und ihn, wie auch wirklich bei den mehresten Menschen der
Fall ist, den blinden Schrecknissen der Phantasie zur Beute überliefern; seine
gerühmte Freiheit ist absolut nichts, wenn er auch nur in einem einzigen Punkte
gebunden ist. Die Kultur soll den Menschen in Freiheit setzen und ihm dazu
behilflich sein, seinen ganzen Begriff zu erfüllen. Sie soll ihn also fähig
machen, seinen Willen zu behaupten, denn der Mensch ist das Wesen, welches will.
Dies ist auf zweierlei Weise möglich. Entweder
realistisch, wenn der Mensch der Gewalt Gewalt entgegensetzt, wenn er als
Natur die Natur beherrschet; oder idealistisch, wenn er aus der Natur
heraustritt und so, in Rücksicht auf sich, den Begriff der Gewalt vernichtet.
Was ihm zu dem ersten verhilft, heißt physische Kultur. Der Mensch bildet seinen
Verstand und seine sinnlichen Kräfte aus, um die Naturkräfte nach ihren eigenen
Gesetzen entweder zu Werkzeugen seines Willens zu machen oder sich vor ihren
Wirkungen, die er nicht lenken kann, in Sicherheit zu setzen. Aber die Kräfte
der Natur lassen sich nur bis auf einen gewissen Punkt beherrschen oder
abwehren; über diesen Punkt hinaus entziehen sie sich der Macht des Menschen und
unterwerfen ihn der ihrigen.
Jetzt also wäre es um seine Freiheit getan,
wenn er keiner andern als physischen Kultur fähig wäre. Er soll aber ohne
Ausnahme Mensch sein, also in keinem Fall etwas gegen seinen Willen
erleiden. Kann er also den physischen Kräften keine verhältnismäßige physische
Kraft mehr entgegensetzen, so bleibt ihm, um keine Gewalt zu erleiden, nichts
anders übrig als: ein Verhältnis, welches ihm so nachteilig ist, ganz
und gar aufzuheben und eine Gewalt, die er der Tat nach erleiden muß, dem
Begriff nach zu vernichten. Eine Gewalt dem Begriffe nach vernichten,
heißt aber nichts anders, als sich derselben freiwillig unterwerfen. Die Kultur,
die ihn dazu geschickt macht, heißt die moralische.
Der moralisch gebildete Mensch, und nur dieser, ist ganz frei.
Entweder ist er der Natur als Macht überlegen, oder er ist einstimmig mit
derselben. Nichts, was sie an ihm ausübt, ist Gewalt, denn eh’ es bis zu ihm
kommt, ist es schon seine eigene Handlung geworden.
[...]
Text aus: Gerhard Fricke, Herbert G.Göpferet
(Hrsg.): Friedrich Schiller: Sämtliche Werke.; München: Carl Hanser Verlag,
Fünfter Band, 3.Aufl. 1962 S. 792 ff.
Hinweise zur Textarbeit:
1 Welche Bedeutung kommt dem Willen im Zusammenhang mit
dem Menschsein zu?
2 Welche Rolle spielt die Physis?
3 Welche Möglichkeiten hat der Mensch sich zu halten?
(Beschreiben Sie genauer die idealistische und die realistische Lösung.)
4 Wie denkt sich Schiller die „Aufhebung der Gewalt"?
Inwiefern ist der Mensch dann ganz frei?
5 Zurück zum Don Carlos:
An welcher Stelle könnten die Gedanken des Textes als
Erklärung bzw. Erhellung herangezogen werden? (Wo setzt z.B. im Drama für
Carlos die „Wende" ein?)
6 Viele meinen, das Drama müsste eigentlich „Marquis Posa"
heißen. Was spricht für Carlos als Titelhelden?
4. 2.6 Zur Tragik im „Don Carlos"
Text K11
Wie sehr nicht nur Schillers Absicht, sondern
bereits die ersten Akte die Familientragödie vorbereitet haben, zeigt der Text
selbst. Posa ist zurückgekehrt als ,,Abgeordneter der ganzen Menschheit«
(1,2,157), der Kunde von den gepeinigten flandrischen Provinzen bringt - aber
Karlos gesteht ihm, daß er, äußerste Verwirrung im Familiengemälde, seine Mutter
liebe: »Von meinem Vater sprich mir nicht« (1,2,304). Und dennoch geht das ganze
folgende Gespräch über Väter und Söhne, und am Ende steht nicht nur eine
metaphorische Umschreibung der Situation zwischen Vater und Sohn, sondern
zugleich eine Vordeutung: »Hier, Roderich, siehst du zwey feindliche / Gestirne,
die im ganzen Lauf der Zeiten / Ein einzig Mal in scheitelrechter Bahn /
Zerschmetternd sich berühren, dann auf immer / Und ewig aus einander fliehn«
(I,2,341f.). Die Familientragödie wäre an sich schon vollständig, aber hier
kommt noch hinzu, daß der Vater zugleich König ist, und nur in diesem Sinne ist
zu Anfang des Dramas Politisches mit dem Familiengemälde verbunden. Daß der
Vater dem Sohn die Braut genommen hat, macht den Konflikt zwischen Vater und
Sohn unlösbar. Philipp wiederum bezeichnet mit: »Hier ist die Stelle, wo ich
sterblich bin« (1,6,867) seinerseits genau den Punkt der tragischen Verwicklung
aus seiner Sicht. Des Prinzen Wunsch, Flandern zu retten, verbindet sich aufs
deutlichste mit dem Versuch des Sohnes dem Vater gegenüber, »In seiner Gunst
[sich] wieder herzustellen« (1,8,915)....
Philipps Zweifel, ob er hier nicht seinen
Mörder vor sich habe, zerstört aber die Möglichkeit einer Beziehung abrupt und
unwiderruflich, und daß der König am Ende spricht und der Vater schweigt,
besiegelt die Sohnestragödie vollkommen. Daß Philipp die Eboli liebt, diese
Karlos, Karlos wiederum die Stiefmutter, führt diese Familiengeschichte in
extreme Situationen. Philipp weiß um die Liebe seines Sohnes zu Elisabeth,
Karlos um Philipps Liebe zur Eboli - ein »dunkles Labyrinth« (111,4,2697). Als
Posa mit seinen Weltverbesserungsideen zum König kommt, führt Philipp ihn in die
Familientragödie zurück: »Ihr habt / Auf meinem Thron mich ausgefunden, Marquis.
/ Nicht auch in meinem Hause?« (111,10,3303-5). Und Philipp selbst bringt die
ganze Misere der königlichen Familientragödie zur Sprache, wenn er sagt: »Doch -
wär' ich auch von allen Vätern der / Unglücklichste, kann ich nicht glücklich
seyn / Als Gatte?
[...]
Am Ende opfert Philipp seinen Sohn, den er bei
der Königin findet, der Inquisition, und die Familientragödie kommt zum
tödlichen Ende. Sie schließt mit dem vollkommenen Untergang dieser
Königsfamilie, dem Abbruch der Generationenkette, dem Sieg des Alters über die
Jugend, dem des Vaters über den Sohn: die naturlichen Verhältnisse sind
umgekehrt, in jeder Hinsicht. Von politischen Umbrüchsplänen ist nur bei Karlos
die Rede, aber seine Ideen werden von der Wirklichkeit widerlegt, und die
Wirklichkeit ist die des enttäuschten Vaters, der seinen Sohn der Inquisition
überliefert. Schiller hat damit die Familientragödie zu einem äußersten
Höhepunkt getrieben: daß die Väter die Söhne überleben, war an sich zwar ein
schon vor Schiller gebräuchliches Motiv der Familientragödie; aber hier ist
zugleich die Beziehung Philipps zu seiner Frau zerstört, und so endigt denn
alles im Untergang.
Textschnitt aus: Helmut Koopmann: Don Karlos;
in: Walter Hinderer (Hrsg.): Schillers Dramen. Neue Interpretationen. Stuttgart:
Reclam 1979; S.101-103
1 Beschreiben Sie die Position, die Koopmann zur Frage nach der Tragik bezieht.
2 Diskutieren Sie die Frage: Kommt Carlos
als „tragische Figur" in Frage?
Tragik*
Der Reichtum dieser tragischen Dialektik läßt
sich auf keine einheitliche Formel bringen, auch nicht auf die Formel ,,Drama
der Humanität". Der freie, sich selbst treue Wille des Menschen ringt mit der
ehernen Gewalt des geschichtlichen Schicksals, die Rebellion des Gewissens mit
der Kunst des Regenten, der Enthusiasmus der Freundschaft mit der
weltumspannenden Macht, der gläubige Opfertod für die Menschheit mit der
Majestät des Königs.
(Text aus: Benno von Wiese: Schiller; Stuttgart: Reclam 1955, S.37)
Der Autor des Textes vereinigt auf engstem Raum
verschiedene Perspektiven und Aspekte der Tragik im Stück. Versuchen Sie,
die einzelnen Aspekte zu isolieren und jeweils ausführlicher in den
jeweiligen Zusammenhängen darzustellen.
4.3 Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf Tauris
4.3.1 Eröffnung/Problemabgrenzungen
Unter der folgenden Adresse finden Sie eine von Schülern erstellte site zur
„Iphigenie". Schauen Sie gelegentlich mal vorbei.
www.stark-verlag.de/10486/Praesentation
1 Sprechen Sie miteinander über Ihre ersten
Eindrücke. Beachten Sie auch das erste Mindmap im ersten Teil.
2 Worum geht es letztlich im Stück? Halten Sie die
verschiedenen Meinungen fest
3 Notieren Sie in Stichpunkten Ihre ersten
Vernutungen /Antworten zu den folgenden Fragen:
a) Hat die Lösung, die Iphigenie am Ende
realisiert, noch etwas mit dem ,,wirklichen Leben" zutun?
b) Wie sollten die zentralen Figuren
Ihrer Meinung nach handeln?
c) Was an dem Stück erscheint Ihnen
diskussionswürdig?
4 Die beiden folgenden Texte befassen sich
mit Iphigenie und ihrer ,,Gültigkeit".
a) Beurteilen Sie die Texte mit Hilfe der
jeweils angefügten Fragen.
b) Kehren Sie erneut zu Aufgabe 3 zurück
und gehen Sie die Fragen nochmals durch.
Text G 1
Das Werk, welches wie kaum ein anderes das
Bild Goethes und der Weimarer Klassik geprägt hat, das für den gebildeten
Deutschen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts geradezu das unanfechtbare
Herzstück des literarischen Kanons gewesen ist, scheint in den letzten
Jahrzehnten mehr und mehr seine moralische und künstlerische Glaubwürdigkeit
verloren zu haben, in lebloser Klassizität erstarrt zu sein - ja ,,auf dem
Friedhof so zeitloser wie vergangener Meisterwerke vergessen zu werden". Diese
ironisch-paradoxe Bemerkung von Hans Robert Jauß demaskiert die Philisterphrase
von der Zeitlosigkeit oder Überzeitlichkeit großer Kunst als das sicherste
Mittel, dieselbe einzusargen...
Text aus: Dieter Borchemeyer: Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf
Tauris; in: Harro Müller-Michaels (Hrsg.): Deutsche Dramen. Interpretationen.
Bd.1: Von Lessing bis Grillparzer. Königstein/Ts.: Athenäum Verlag 2. Aufl.
1985; S. 52-87; hier S.52
5 Fragen zum Text:
a) Was ist unter ,,moralischer
Glaubwürdigkeit" zu verstehen?
b) Was ist mit der ,,Philisterphrase von
drer Zeitlosigkeit" gemeint?
Text G 2
Goethes Iphigenie ist ein Remake eines rund
2500 Jahre alten Dramas von Euripides.
Was als erstes auffällt, ist der Stil. Während
die besten Dramen des Sturm und Drang in Prosa geschrieben sind, kehrt die
Klassik zum Versdrama zurück. In der Iphigenie bedient sich Goethe des
fünffüßigen Jambus, den schon Lessing in seinem Nathan benutzt hatte. Dieses
Versmaß eignet sich vorzüglich für eine vornehm-feierliche Diktion (»Die
Ungewißheit schlägt mir tausendfältig / Die dunkeln Schwingen um das bange
Haupt.«).
Inhaltlich ist das hervorstechendste Merkmal
des Stücks die Statik seiner Handlung. Es passiert wirklich nicht viel. Einzige
Höhepunkte sind das Einander - Wiedererkennen der beiden Geschwister Iphigenie
und Orest sowie der innere Kampf Iphigenies, der ihrer Entscheidung vorausgeht,
sich Thoas zu offenbaren. Das Stück lebt nicht vom entschlossenen Handeln seiner
Helden, sondern von ihren qualvollen Entscheidungen, nicht zu handeln. Thoas
nimmt Iphigenie nicht mit Gewalt zur Frau, Iphigenie tötet die beiden Landsleute
nicht, Pylades flieht nicht, Orest kämpft nicht und Iphigenie scheut sich, den
König hereinzulegen.
Warum all das? Goethe will die
Selbstbestimmtheit der moralischen Entscheidung abfeiern, und zwar als Gegenbild
zu Orests Überzeugung, daß alles vorherbestimmt sei. Orests Leben legt diese
Determinationsgläubigkeit allerdings nahe. Mord, Grausamkeit und Hinterlist
bestimmen das Verhalten seiner fluchbeladenen Familie; er selbst hat wie unter
Zwang seine Mutter getötet und damit den Vater gerächt. Eher zwanghaft als aus
eigenem Antrieb beugt er sich dem Orakel und segelt nach Tauris, wo sich sein
Schicksal erfüllen soll. Auch da verhält er sich passiv. Er rettet sich und die
seinen nicht selbst, sondern wird von seiner aufrichtig-mutigen Schwester
gerettet. Ob die Erlösung vom Fluch gelingt, bleibt offen, aber Iphigenies
beispielgebend mündige Entscheidung läßt immerhin hoffen, daß er den Fluch
selbst abzuschütteln vermag.
Das war's auch schon. Ein richtiges Drama
konnte daraus nicht werden, und eine Tragödie schon gar nicht, weil die
»sittlichen« Entscheidungen, die die Helden in ihrer »Reinheit« treffen, keine
negativen Folgen auslösen. Es geht eben alles, wie sich das für eine ordentliche
Utopie gehört, glatt und gut. Iphigenie trifft auf einen großmütigen König, und
dieser kann sich Großherzigkeit leisten, weil er niemandem Rechenschaft schuldet
- außer sich selbst.
Hier wirkt übrigens der unterschwellige
Appell, es als roher Skythe den zivilisierten Griechen gleichzutun und eine
sittliche, humane Entscheidung zu treffen, mehr als die Erinnerung an den
Schwur, denn von dem hätte Thoas sich aus mannigfachen Gründen lossagen können
(fehlender Verwandtschaftsnachweis, dreistes Auftreten von Orest und Pylades,
anfängliche Arglist von Iphigenie, mangelnde Gewähr einer glücklichen Heimkehr,
eventuelle Kollision mit höherrangigem Recht usw.).
Goethe hat sich übrigens nie Illusionen
darüber gemacht, daß er sich hier in einer von feierlicher Erhabenheit
triefenden Sprache von der Wirklichkeit weg in den Himmel der Utopie begeben
hat. Iphigenie zeigt, um mit Max Weber zu sprechen, eine abstrakte
Gesinnungsethik. Es ist nicht etwa so, daß sie hoch pokert und einfache Schwein
hat. Sie hätte nämlich mit geringerem Einsatz gewinnen können. Sie zieht die
moralische Entscheidung ohne Rücksicht auf die Konsequenzen der moralisch
anfechtbaren vor.
Praktische Verantwortungsethik hätte einen
Fluchtversuch nahegelegt, denn schließlich war auf Thoas' Ehrgefühl kein Verlaß,
und die schönste Moral nützt nichts, wenn sie nur dazu führt, daß man auf einem
Altar hingeschlachtet wird.
Text aus: Jochen Duderstadt: Zwangslektüre.
Die 25 meistgelesenen Schulklassiker; Frankfurt am Main: Eichborn Verlag, 2.
Aufl. 1996 S.52 f.
6 Fragen zum Text:
a) Der Autor unterstellt Goethe, er wolle
die ,,Selbstbestimmtheit der moralischen Entscheidung" in den Mittelpunkt
stellen. Wie ist das zu verstehen
- für das Handeln der Figuren und ihre
Verantwortung?
- für den Begriff von Schicksal und
Tragik?
b) Wie wird die Entscheidung Iphigenies
bewertet?
Versuchen Sie, zentralen Aussagen des
Textes vom Dramentext her zu be- oder zu widerlegen.
7 Entwerfen Sie
- ausgehend vom letzten Text - ein erstes Konfigurationsschema:
a) Welche Eigenschaften und
Handlungsmotive spricht Duderstadt den einzelnen Figuren zu?
b) Wie sieht er die Beziehungen zwischen
den zentralen Figuren? (Beachten Sie auch: Wofür stehen die einzelnen
Figuren?)
4.3.2 Das Land der Griechen mit der Seele suchend...
1 ...ein Textzitat, das zum „geflügelten „Wort" geworden
ist. Suchen Sie die Originalstelle auf. Was bedeutet das Zitat im
ursprünglichen Kontext?
2 Stellen Sie Vermutungen an: Woran könnte es gelegen
haben, dass dieses eigenartige Zitat zum geflügelten Wort wurde.
3 Was bedeutet für Iphigenie „das Land der Griechen"?
Welche Rolle spielte dieses Land für sie? Stellen Sie gegenüber:
Für Goethe und einen Teil seiner Zeitgenossen
hatte das „Land der Griechen" eine ganz besondere Bedeutung. Der
Kunsthistoriker Winckelmann beschäftigte sich intensiv mit der Kunst der
Griechen und schrieb ein epochemachendes Buch, in dem er seine grundlegenden
Ansichten zur „klassischen Kunst" darlegte und begründete. Für ihn war die Kunst
der Griechen Vorbild schlechthin. Und das lag nicht an irgendwelchen
individuellen Zufällen, sondern am Zusammenfallen bestimmter Faktoren, wie sie
eben in Griechenland zugleich auftraten. Der folgende Text enthält wesentliche
Teile der Ansichten Winckelmanns.
Text G 3
Johann Joachim Winckelmann
Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der
Malerei und Bildhauerkunst
Der gute Geschmack, welcher sich mehr und mehr
durch die Welt ausbreitet, hat sich angefangen zuerst unter dem griechischen
Himmel zu bilden. Alle Erfindungen fremder Völker kamen gleichsam nur als der
erste Same nach Griechenland und nahmen eine andere Natur und Gestalt an in dem
Lande, welches Minerva, sagt man, vor allen Ländern wegen der gemäßigten
Jahreszeiten, die sie hier angetroffen, den Griechen zur Wohnung angewiesen, als
ein Land, welches kluge Köpfe hervorbringen würde.
Der Geschmack, den diese Nation ihren Werken
gegeben hat, ist ihr eigen geblieben; er hat sich selten weit von Griechenland
entfernt, ohne etwas zu verlieren, und unter entlegenen Himmelsstrichen ist er
spät bekanntgeworden. Er war ohne Zweifel ganz und gar fremde unter einem
nordischen Himmel zu der Zeit, da die beiden Künste, deren große Lehrer die
Griechen sind, wenig Verehrer fanden.
Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es
möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten, und was
jemand von Homer gesagt, daß derjenige ihn bewundern lernet, der ihn wohl
verstehen gelernet, gilt auch von den Kunstwerken der Alten, sonderlich der
Griechen. Man muß mit ihnen wie mit seinem Freund bekannt geworden sein, um den
Laokoon ebenso unnachahmlich als den Homer zu finden.
Die Kenner und Nachahmer der griechischen
Werke finden in ihren Meisterstücken nicht allein die schönste Natur, sondern
noch mehr als Natur; das ist, gewisse idealische Schönheiten derselben, die, wie
uns ein alter Ausleger des Plato lehret, von Bildern, bloß im Verstande
entworfen, gemacht sind.
Der schönste Körper unter uns wäre vielleicht
dem schönsten griechischen Körper nicht ähnlicher, als Iphikles dem Herkules,
seinem Bruder, war. Der Einfluß eines sanften und reinen Himmels wirkte bei der
ersten Bildung der Griechen, die frühzeitigen Leibesübungen aber gaben dieser
Bildung die edle Form.
[...]
Aller Übelstand des Körpers wurde behutsam
vermieden, und da Alcibiades in seiner Jugend die Flöte nicht wollte blasen
lernen, weil sie das Gesicht verstellete, so folgten die jungen Athenienser
seinem Beispiel.
Die vollkommensten Geschöpfe der Natur aber
würden in einem Lande, wo die Natur in vielen ihrer Wirkungen durch strenge
Gesetze gehemmet war, wie in Agypten, dem vorgegebenen Vaterlande der Künste und
Wissenschaften, den Künstlern nur zum Teil und unvollkommen bekanntgeworden
sein. In Griechenland aber, wo man sich der Lust und Freude von Jugend auf
weihete, wo ein gewisser heutiger bürgerlicher Wohlstand der Freiheit der Sitten
niemals Eintrag getan, da zeigte sich die schönste Natur unverhüllet zum großen
Unterricht der Künstler.
Die Schule der Künstler war in den Gymnasien,
wo die jungen Leute, welche die öffentliche Schamhaftigkeit bedeckte, ganz
nackend ihre Leibesübungen trieben.
Diese häufigen Gelegenheiten zur Beobachtung
der Natur veranlasseten die griechischen Künstler noch weiterzugeben: sie fingen
an, sich gewisse allgemeine Begriffe von Schönheiten sowohl einzelner Teile als
ganzer Verhältnisse der Körper zu bilden, die sich über die Natur selbst erheben
sollten; ihr Urbild war eine bloß im Verstande entworfene geistige Natur.
Nach solchen über die gewöhnliche Form der
Materie erhabenen Begriffen bildeten die Griechen Götter und Menschen.
Das Gesetz aber, ,,die Personen ähnlich und zu
gleicher Zeit schöner zu machen", war allezeit das höchste Gesetz, welches die
griechischen Künstler über sich erkannten, und setzt notwendig eine Absicht des
Meisters auf eine schönere und vollkommenere Natur voraus. Die sinnliche
Schönheit gab dem Künstler die schöne Natur; die idealische Schönheit die
erhabenen Züge: von jener nahm er das Menschliche, von dieser das Göttliche.
Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der
griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt und eine stille Größe,
sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meers allezeit
ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeiget der Ausdruck in
den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.
Diese Seele schildert sich in dem Gesichte des Laokoons und nicht in dem
Gesichte allein, bei dem heftigsten Leiden. Der Schmerz, welcher sich in allen
Muskeln und Sehnen des Körpers entdecket und den man ganz allein, ohne das
Gesicht und andere Teile zu betrachten, an dem schmerzlich eingezogenen
Unterleibe beinahe selbst zu empfinden glaubet, dieser Schmerz, sage ich, äußert
sich dennoch mit keiner Wut in dem Gesichte und in der ganzen Stellung. Er
erhebet kein schreckliches Geschrei, wie Virgil von seinem Laokoon singet. Die
Öffnung des Mundes gestattet es nicht; es ist vielmehr ein ängstliches und
beklemmtes Seufzen. Der Schmerz des Körpers und die Größe der Seele sind durch
den ganzen Bau der Figur mit gleicher Stärke ausgeteilet und gleichsam
abgewogen. Laokoon leidet, aber er leidet wie des Sophokles Philoktetes: sein
Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir wünschen, wie der große Mann das
Elend ertragen zu können.
Der Ausdruck einer so großen Seele gehet weit
über die Bildung der schönen Natur: Der Künstler mußte die Stärke des Geistes in
sich selbst fühlen, welche er seinem Marmor einprägte. Griechenland hatte
Künstler und Weltweise in einer Person. Die Weisheit reichte der Kunst die Hand
und blies den Figuren derselben mehr als gemeine Seelen ein.
Je ruhiger der Stand des Körpers ist, desto
geschickter ist er, den wahren Charakter der Seele zu schildern: in allen
Stellungen, die von dem Stand der Ruhe zu sehr abweichen, befindet sich die
Seele nicht in dem Zustand, der ihr der eigentlichste ist, sondern in einem
gewaltsamen und erzwungenen Zustande. Kenntlicher und bezeichnender wird die
Seele in heftigen Leidenschaften; groß aber und edel ist sie in dem Stand der
Einheit, in dem Stand der Ruhe.
Text aus: Johann Joachim Winckelmann: Gedanken
über die Nachahmung der greichischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst.
In: Deutsche Literaturdenkmäler. Bd. 20. Heilbronn 1885)
7 Hinweise zur Textarbeit:
a) Wie sieht Winckelmann das Verhältnis
Kunst - Natur?
- Wie kommt es zu allgemeinen Begriffen
von Schönheit?
- Was ist der Maßstab für Schönheit?
- Beschreiben Sie Absicht und Tätigkeit
des Künstlers.
b) Das folgende Schema stellt die
Zusammenhänge im Überblick dar.
- Beschreiben Sie die Zusammenhänge mit
eigenen Worten.
- Wie wirkt sich der Gesamtprozess aus?
c) Wie sieht das Ideal der schöneren,
vollkommeneren Natur bezogen auf den Menschen aus?
d) Klären Sie mit Hilfe eines Lexikons
den Begriff „Humanität". Verankern Sie den Begriff im Winckelmannschen
Denken.
8 Zurück zur Iphigenie: Formulieren Sie
nun eine Hypothese zur Bedeutung des „Landes der Griechen" für Iphigenie.
Beachten Sie dabei auch die Bedeutung des Landes der Taurer! Der folgende
Text kann Ihnen einige Anregungen geben.
Text G 4
Die Ausgangssituation*
Halb für sich redend, klagend - halb
für die Zuschauer, in solcher Schwebe zwischen Prologus und Monolog eröffnet
Iphigenie den dramatischen Raum. Die körperliche Bewegung und die Bewegung der
Gedanken und des Gefühls schreiten ihn ab: den Hain der Göttin, das Ufer, die
weite See und das ,,Land der Griechen", mit der Seele gesucht. So wölbt sich ein
erster Spannungsbogen, welcher das Exil umschreibt (1-14). Damit ist der
äußere Raum schon markiert: Hain -Meer - Griechenland. Wenig mehr an Topographie
ist später zu vernehmen, nur noch die Bucht, in welcher Orests Schiff sich
verbergen wird, und ein Vorgebirg. Die Natur als breiter sinnlicher Weltvorrat
spielt nicht mit. Und so verinnerlicht auch sogleich der zweite Monologbogen das
Exil (15-32), über die Klage der Einsamen in das Thema des hilflosen,
ausgelieferten Weibes modulierend.
Text aus: Arthur Henkel: Goethe: Iphigenie auf
Tauris; in: Benno von Wiese (Hrsg.): Das deutsche Drama vom Barock bis zur
Gegenwart; Bd.1; Düsseldorf: August Bagel Verlag 1968; S.170 - 194; hier S.172
f.
9 Klären Sie die Frage der Humanität
bezogen auf
- Iphigenie und ihre Heimat Griechenland
sowie
- Iphigenie und ihr Verhältnis zu ihren
Gastgebern.
4.3.3 Die Figuren
1 Das Drama kommt mit relativ wenigen
Figuren aus. Stellen Sie die handlenden Figuren zusammen und bestimmen Sie
- ihre wesentlichen Merkmale
- ihre entscheidenden Handlungsziele und
Motive,
- die Beziehungen zwischen den Figuren.
(Überlegen Sie: Gibt es da Veränderungen?)
2 Die folgenden Texte enthalten Hinweise
zu und Einschätzungen von einzelnen Figuren. Ordnen Sie die aus den Texten
gewonnenen Erkenntnisse in ihr Konfigurationsschema ein. Ziehen Sie auch Ihr
erstes Schema vergleichend heran.
Text G 5
Pylades*
Pylades wiederum ist sprachlich bezeichnet in
den Metaphern der optimistisch deutenden Kausalität: verbinden, knüpfen,
flechten, sinnen - es sind die Bilder der Folge, des klug und heilsam geknüpften
Netzes (welches das fatale Netz des Agamemnon kontrapungiert), eines Zeitgewebes
mit dem Einschlag der Freiheit in den Zettel der Notwendigkeit. Dabei hat die
List, das Vielgewandt-Odysseische (762) durchaus sein Recht. So auch hat Pylades
die Lage längst akzeptiert, hat schon ,,ausgelockt" (771), was ihm zu
Befreiungsplänen dienlich sein kann. Hoffnung ist ihm weniger Resultat, als das
Prinzip seiner Welt- und Schicksalsdeutung. Die Götter halten ,,Rat und Wege"
bereit (603), der Entschlossene benutzt sie, ,,Lust und Liebe" schließen das
Geschick auf (665). So ist ihm auch die Vergangenheit, welche in der
Freundschaft gründete, ein Arsenal der Hoffnung, des Aufbruchs zu ,,großen
Taten" (666) und - der Dankbarkeit (638 ff.). Es zeichnet Pylades aus, daß sein
Pragmatismus ohne jeden niedrigen Zug ist. Seine Listen, seine Maskierungen
haben Unschuld. Es ist schöne Naivität, wenn er, der sein und des Freundes Tun
als göttlichen Auftrag begreift (734 if.), gar nicht anders kann, als das Orakel
des Apoll, das sie auf den Weg brachte, immer wieder exoterisch zu deuten,
,,Bild" und ,,Schwester" immer im kindlich-frommen Sinne zu verstehen. Und sein
Lobpreis der ,,List und Klugheit" (766) gesellt sich einer Psychologie, welche
bei aller klüglichen Vorsicht (796) doch auf das antwortende Edle im Menschen
baut. Wenn er die Beständigkeit des Weibes preist, mit der
Text aus: Arthur Henkel: Goethe: Iphigenie auf
Tauris; in: Benno von Wiese (Hrsg.): Das deutsche Drama vom Barock bis zur
Gegenwart; Bd.1; Düsseldorf: August Bagel Verlag 1968; S.170 - 194; hier S. 178
f.
Pylades wird recht positiv gesehen. Wie
rechtfertigt Henkel seine Sehweise? Welche anderen Bewertungen sind denkbar?
Text G 6
Pylades und Orerst*
Das Bewußtsein, daß die Zeit des Schönen
vorüber ist, überschattet auch Iphigenie auf Tauris, wie schon der
einleitend zitierte Vers zeigt. Die trojanischen Helden sind tot, die große Zeit
Griechenlands ist vorbei, wenn auch Orest und Pylades Iphigenie ,,das Bild der
Helden, / Die ich von Eltern her verehren lernte" erneuern (Vs. 945f.). Aber sie
sind nur die Nachfahren der größeren Helden - wie schon Agamemnon und die
anderen Großen des Griechenheers nur der Abglanz der noch gewaltigeren Heroen
der Urzeit sind. Das ist bereits bei Homer zu lesen, und Iphigenie erinnert
gewissermaßen daran, wenn sie Orest den Auszug der trojanischen Helden vom
Strand zu Aulis beschreibt: ,,Sie zogen aus, / Als hätte der Olymp sich aufgetan
/ Und die Gestalten der erlauchten Vorwelt / Zum Schrecken Ilions herabgesendet"
(Vs. 960ff.). Orest und Pylades gehen in den Spuren der bewunderten Helden der
Vergangenheit. Pylades etwa läßt sich gern von dem Freund mit Odysseus
vergleichen: ,,Ein jeglicher muß seinen Helden wählen, / Dem er die Wege zum
Olymp hinauf / Sich nacharbeitet." Odysseus (Ulisses) bedeutet ihm die Synthese
von listenreicher Beredsamkeit und Tapferkeit (von welcher der auf Gradheit
bedachte Orest freilich nichts wissen will). ,,Laß es mich gestehn: / Mir
scheinet List und Klugheit nicht den Mann zu schänden, der sich kühnen Taten
weiht." (Vs. 763ff.) Wenn Orest und Pylades von ,,großen Taten" reden, haben sie
einen bestimmten Typus des Helden vor Augen, der ,,mit Keul und Schwert"
Ungeheuer und Räuber jagt (Vs. 666ff.). Die Imitation eines solchen mythischen
Rollenmusters geschieht, zumindest von seiten des Pylades, keineswegs naiv;
letzterer erkennt, daß jenes Muster eine poetische Stilisierung ist, welche die
mühevolle Genese der heroischen Taten, die oft nur ,,eitel Stückwerk" waren,
verschleiert - ein Idealbild, dem der Spätgeborene nachläuft, ohne es je
erreichen zu können.
Text aus: Dieter Borchemeyer: Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf
Tauris; in: Harro Müller-Michaels (Hrsg.): Deutsche Dramen. Interpretationen.
Bd.1: Von Lessing bis Grillparzer. Königstein/Ts.: Athenäum Verlag 2. Aufl.
1985; S. 52-87; hier S.56
Borchemeyer zieht die trojanischen Helden
als Vergleich und Verdeutlichung heran. Was berechtigt ihn dazu? Was bringt
der Vergleich an Erkenntnis?
Text G 7
Menschenopfer*
Diese Identität von kultischem Menschenopfer
und Rachemord ist ein immer wiederkehrendes Motiv der Goetheschen Iphigenie.
Wer wähnt' die Götter verlangten das Blutritual, ,,dichtet ihnen nur / Die
eignen grausamen Begierden an" (Vs. 524f.). Orest sieht sich am Altar der Diana
,,wie meine Ahnen, wie mein Vater / Als Opfertier im Jammertode bluten" (Vs.
576f.). Daß Iphigenie den Bruder opfern soll, ist aus seiner Sicht nur die
Konsequenz des auf seinem Geschlecht lastenden Fluchs: ,,Der Brudermord ist
hergebrachte Sitte / Des alten Stammes" (Vs. 1229f.). Daß Thoas' Rückfall in den
blutigen Brauch nur religiös und politisch kaschierte Rache ist, davon war schon
die Rede. Seine Berufung auf die Forderung der Göttin wird durch Dianas Rettung
der Iphigenie und den wiederholt (Vs. 128ff., 281ff.) erwähnten ,,Segen", der
dem Land gerade durch den Verzicht auf das Menschenopfer von seiten der Göttin
zuteil geworden scheint, widerlegt; die Behauptung, daß sein Volk (wie bei
Racine und Gluck) das Sühneopfer verlangt, wird durch Arkas' Bericht (Vs. 132ff.
und 1468ff.) eindeutig als falsch entlarvt. Thoas' Wiedereinführung des
Sühneopfers ist rein privat motiviert - die politische Notwendigkeit ist nur
Vorwand -,...
Text aus: Dieter Borchemeyer: Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf
Tauris; in: Harro Müller-Michaels (Hrsg.): Deutsche Dramen. Interpretationen.
Bd.1: Von Lessing bis Grillparzer. Königstein/Ts.: Athenäum Verlag 2. Aufl.
1985; S. 52-87; hier S.64
Text G 8
Thoas fordert das Menschenopfer*
Wenn Thoas von der Priesterin verlangt: ,,Tu
deine Pflicht, ich werde meine tun" (Vs. 531) oder: ,,Ein alt Gesetz, nicht ich,
gebietet dir." (Vs. 1831) und schließlich: ,,Gehorche deinem Dienste, nicht dem
Herrn" (Vs. 1855), so fordert er nichts anderes als die Ausschaltung der
kritischen Vernunft, des eigenen moralischen Urteils, mithin die Preisgabe der
Maximen der Aufklärung, denen Iphigenie treu bleibt, auch wenn sie deren
maskulin-rationalistische Grenzen überschreitet, sich immer wieder auf das
,,Herz" als Mitte ihres Wesens und Prüfstein des Rechten und Guten beruft: ,,Ich
untersuche nicht, ich fühle nur." (Vs. 1650). Dieses spezifisch weibliche Gefühl
aber ist ein durchaus aufgeklärtes Sentiment, das ,natürliche' Rechtsempfinden
des autonomen Individuums als höchste Instanz, als Kriterium für Recht und
Unrecht, welches Kriterium sich das Subjekt nicht mehr von der absoluten
Befehlsgewalt abnehmen läßt. In Thoas' Worten vermischt sich demgegenüber die
Befehlshaltung des absolutistischen Herrschers, der den Untertan von der
moralischen Verantwortung für das Befohlene dispensiert, ja ihm das Recht auf
das moralische Räsonnement über dasselbe abstreitet mit dem doktrinären, auf dem
tradierten Ritual beharrenden Priesterstandpunkt à la Kalchas in Racines
Iphigénie.
Text aus: Dieter Borchemeyer: Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf
Tauris; in: Harro Müller-Michaels (Hrsg.): Deutsche Dramen. Interpretationen.
Bd.1: Von Lessing bis Grillparzer. Königstein/Ts.: Athenäum Verlag 2. Aufl.
1985; S. 52-87; hier S.65
Text G 9
Thoas’ Forderung*
Indem er aber den vor der Vernunft
unausgewiesenen ,,heiligen Gebrauch" absolut setzt, tut er gerade das
,,Unziemliche": er deutet. Für den Rückfall aus dem Humanen in die Barbarei gibt
es nicht das Alibi der Tradition. Das ist festzuhalten, weil sich schon hier der
humane Schluß vorbereitet. So ist es, auf dieser Stufe des dramatischen
Vorgangs, als verhänge er den Schritt ins Primitivere über sich. Das Opfer der
beiden gefangenen Fremden wird politisch gerechtfertigt (532 f.). Auch
daß er von ,,deiner" Göttin spricht, ist verräterisch. Schließlich der
Lakonismus seiner Befehle beim Abgang! Vor dem Zuschauer ist er ins Unrecht
gesetzt.
Text aus: Arthur Henkel: Goethe: Iphigenie auf Tauris; in:
Benno von Wiese (Hrsg.): Das deutsche Drama vom Barock bis zur Gegenwart; Bd.1;
Düsseldorf: August Bagel Verlag 1968; S.170 - 194; hier S.176 f.
Thoas fordert die Wiedereinführung der
Menschenopfer. Wie begründet er das? Welche Gründe legen die Texte offen?
Text G 10
Iphigenie und Thoas*
Die Heldin und Thoas sind stärker aufeinander
bezogen als es der ,,moralische Fall" brauchte, ja als es der erste Konflikt
dieses Dramas verriet, in welchem es Iphigenie offensichtlich nicht gelang, die
widerstrebenden Motive ihres ,,Widerwillens" auf eine existentielle
Schlüssigkeit zu bringen. Das gehört zu den Voraussetzungen des vierten Aufzugs,
daß Dankbarkeit, ja eine Vater-Ersatzliebe, Iphigeniens Verhältnis zum König
Thoas bestimmt, daß er noch immer als ,,edler" erscheint und seine doch ziemlich
brutale Alternative mehr die Fallhöhe der enttäuschten Neigung als genuine
Barbarei bezeichnen soll. Thoas wirkt aber über seine Vertretung des Vaterbildes
hinaus auch als moralische Macht, eine Weile verdeckt durch die Orestkrise, nun
aber, wenn der ,,politische" den sakralen Raum notvoll bedrängt, in
entscheidungsfordernder Mächtigkeit. Sie entzweit Iphigenie mit sich selbst.
Text aus: Arthur Henkel: Goethe: Iphigenie auf
Tauris; in: Benno von Wiese (Hrsg.): Das deutsche Drama vom Barock bis zur
Gegenwart; Bd.1; Düsseldorf: August Bagel Verlag 1968; S.170 - 194; hier S. 184
Beschreiben Sie genau die Aspekte, die der
Text im Verhältnis Thoas - Iphigenie hervorhebt.
4.3.4 Iphigenie in Konflikten
1 Iphigenie sieht sich in der ,,Tradition
des Familienfluchs". Beschreiben Sie genauer den mythischen Inhalt des
Fluchs. (Wenn der Dramentext nicht genügend aussagt, greifen Sie auf ein
Lexikon der griechischen Mythologie zurück.)
2 Beschreiben Sie die Bindungen, in denen
Iphigenie steht:
3 Beschreiben Sie das Konfliktpotential,
das sich aus den einzelnen Bindungen ergeben kann.
4 Verfolgen Sie genauer die Wege, die
Iphigenie beschreitet bei der Bewältigung bzw. Vermeidung der einzelnen
Konflikte.
Text G 11
Zum Menschenbild des Dramas gehört Orests
Geschick: Er ist zum Mord gezwungen, muß aber die Schuld dafür übernehmen. Die
Blutrache- in Gestalt des Götterwillens oder einer ungeschriebenen Satzung -
treibt zur Tat, deren Folgen der Täter allein trägt. Die Götter sind objektive
Mächte, die in einem Immediatverhältnis zu den Menschen stehen...
Im Parzenlied leben
die Götter ihre Götterwillkür aus; ihre Rache trifft noch die Unschuldigen; der
Sühnegedanke ist ihnen fremd. Wir müssen das Parzenlied als Ausdruck der
alten Götter-vorstellung deuten, um Iphigenies neue Haltung- das Ultimatum ihres
Glaubens, der die eigene Errettung als Preis der Hingabe voraussetzt - zu
verstehen. Ihr Vertrauen, das sie in die Verbindlichkeit der Wahrheit, in die
Götter und in Thoas setzt, wird von den Bedingungen, die sie stellt,
relativiert: ,,Wenn / Ihr wahrhaft seid, wie ihr gepriesen werdet, / So zeigt's
durch euern Beistand und verherrlicht / Durch mich die Wahrheit!" (V. 1916 ff.).
Iphigenie pocht auf die Gerechtigkeit, die ,,Menschlichkeit" der Götter; sie
besteht auf dem ausgeglichenen Verhältnis von Gnade und Leistung - konkret: auf
der göttlichen Hilfe in der Situation, in die sie durch ihr Ethos gerät.
Iphigenie fordert, was die Aufklärungsepoche erwartet: die prästabilierte
Übereinstimmung der Götter mit dem Sittlichen im Menschen. Inder Sittlichkeit
sind Götter und Menschen ungeschieden. Daher kann Iphigenie die Wahrheit sagen,
die dem vermeintlichen Auftrag Apolls widerspricht.
[...]
In dem Augenblick, da Iphigenie den Fluchtplan
gesteht, nimmt sie den Skythenkönig bewußt in die Gemeinschaft der ,,Humanen"
auf, der er sich durch seinen Tötungsbefehl entziehen will. Am Ende muß Thoas
sein Versprechen einlösen (vgl. V. 293 f.)' will er wahrhaftig, er muß seinen
Eros besänftigen, will er ,,edel" bleiben. Sein endliches ,,Lebt wohl!" ist das
menschlichste Wort dieses Schauspiels, denn Thoas bejaht den Abschied, obwohl er
vieles verliert, während die anderen alles gewinnen. Iphigenies Wahrheitsliebe
trifft auf Thoas' Selbstlosigkeit' die erst ihr Ethos wirksam macht.
Text aus: Werner Keller: Das Drama Goethes;
in: Walter Hinck (Hrsg.): Handbuch des deutschen Dramas; Düsseldorf, Bagel 1980,
S.140
5 Iphigenies ,,humane Konfliktbewältigung"
a) Verfolgen Sie im Detail: Wie kam
Orests Schuld zustande? Was hat Orest selbst zu verantworten?
b) Erläutern Sie die Thematik des
,,Parzenlieds"
- Machen Sie sich den Textinhalt klar.
- Der Text versteht das Parzenlied als
,,Ausdruck der alten Göttervorstellung". Was ist damit gemeint?
Text G 12
Iphigenie und das Parzenlied*
Wie Iphigenie sich mit den gleichen Argumenten
und Bildern gegen die alte Götter- und Herrscherwillkür auflehnt, so findet auch
das neue Verhältnis zwischen Mensch und Gottheit, dessen Konstituierung im
Mittelpunkt des Schauspiels steht, sein Korrelat in einer neuen Beziehung
zwischen Fürst und ,Untertan'. Iphigenies ,,Bild" der Götter ist zugleich ihr
Bild der guten Regierung. - Gott ist nicht der ,Ganz andere', von dem man sich -
das alttestamentarische Verbot! - kein Bild machen soll, sondern sein Wesen wird
im Gegenteil nach dem Modell der Humanität, dem Bild des guten Menschen
entworfen.
Text aus: Dieter Borchemeyer: Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf
Tauris; in: Harro Müller-Michaels (Hrsg.): Deutsche Dramen. Interpretastionen.
Bd.1: Von Lessing bis Grillparzer. Königstein/Ts.: Athenäum Verlag 2. Aufl.
1985; S. 52-87; hier S. 66
Text G 13
Iphigenie und das Parzenlied*
Der ,,furchtbare" Gesang der Parzen, die
,,grimmig" das Geschick des Tantalus mitlitten (1722 f.) wird für Iphigenie zum
Weg in das Rätsel ihres Ursprungs. Wenn sie, das Lied in seiner hieratischen
Starre nachsingend, sich fast in die Namenlosigkeit des titanischen Hasses
auflöst und in der Gefahr steht, daß dieser auch sie ,,mit Geierklauen" faßt,
dann gewinnt sie sieh in der letzten Strophe - mit der episch-distanzierenden,
präteritalen Wendung ,,So sangen die Parzen" - wieder als Kind des neuen Äon.
Erinnernd, wie aus bösen Träumen auftauchend hält sie die Rätselgebärde des
Ahnherrn fest, die Gebärde der Wortlosigkeit vor dem unbegreiflichen,
unbekümmerten Götterwillen. Wenn sie aber von Tantalus singt (und hiermit der
Poesie die Befugnis wiedergibt, welche sie den lügenden Dichtern offenbar
absprach), er denke der ,,Kinder und Enkel", so ist dieses antwortende
,,mythologisch" weitergesponnene Andenken eine Chiffre. Der Mythos, welcher zur
Theodizee nicht taugt, aber auf seine Weise den verschleierten Ursprung des
Unheils versteht, bedeutet ein neues Selbstverständnis für die Tantalidin.
(Es ist schwer, hier den Begriff einer Entmythologisierung zu vermeiden.)
Iphigenie wird fortan ihren Glaubensgrund nicht mehr mythisch bezeichnen können.
Wie aber sonst, das wird der fünfte Aufzug erweisen.
Was Orest in seiner Jenseitsvision geschah,
das geschieht Iphigenie in dieser Zone der Gefährdung durch den ,,radikalen"
Zweifel daran, ob die Götter wahrhaft gut und gerecht sind.
Text aus: Arthur Henkel: Goethe: Iphigenie auf
Tauris; in: Benno von Wiese (Hrsg.): Das deutsche Drama vom Barock bis zur
Gegenwart; Bd.1; Düsseldorf: August Bagel Verlag 1968; S.170 - 194; hier S.187
f.
6 Die beiden Texte können einiges zur
Klärung beitragen. Stellen Sie gegenüber:
Text G 14
Iphigenie*
Auch Iphigenie zeichnet sich durch sichere
Jungfräulichkeit aus; diese ist für sie der Schutzwall ihrer Selbstbestimmung.
Für die Macht des Eros, welche stets zur Unterdrückung der Frau, als ,,Objekt"
des Mannes, geführt hat, ist sie unempfänglich. Weiblichkeit äußert sich in ihr
nur als Schwesterlichkeit. Das ist der Grund für ihre tiefe Verbundenheit gerade
mit der jungfräulichen Göttin Diana, die ganz in der Beziehung zu ihrem Bruder
Apoll aufgeht: ,,Du liebst, Diane, deinen holden Bruder / Vor allem, was dir Erd
und Himmel bietet, / Und wendest dein jungfräulich Angesicht / Nach seinem
ew'gen Lichte sehnend still." (Vs. 1321ff.) Die Ehe mit Thoas muß Iphigenie
nicht nur verwerfen, da sie durch dieselbe von der Heimat - als der Sphäre ,selbstbewußten
Lebens' -für immer ferngehalten würde, sondern weil sie sich überhaupt gegen die
Rolle der Frau im weithin glück- und ehrlosen Schatten des Mannes (Vs. 24ff.)
sträubt, zumal auf barbarischem Boden, wo das männliche Herrschaftsrecht noch
stärker ausgeprägt ist.
Text aus: Dieter Borchemeyer: Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf
Tauris; in: Harro Müller-Michaels (Hrsg.): Deutsche Dramen. Interpretationen.
Bd.1: Von Lessing bis Grillparzer. Königstein/Ts.: Athenäum Verlag 2. Aufl.
1985; S. 52-87; hier S. 59
7 Welches Bild hat nach Meinung des Textes
Iphigenie von sich selbst?
8 Iphigenie sieht sich mit dem
Wahrheitsproblem konfrontiert.
a) Beschreiben Sie die Problemlage
genauer. (Denken Sie auch An die jeweils ,,Betroffenen"!)
b) Welche Lösungen bieten sich an?
c) Wie begründet Iphigenie ihre
Entscheidung?
Texte G 15
Iphigenie und die Lüge*
,,Sie sind - sie scheinen - für Griechen halt'
ich sie" (1889). Nur eine Weile fügt sich die Sprache Iphigeniens dem
Vorsatz und Zwang, Mittel zu sein, Verschleierung, Verschweigen dessen, was ist.
Die Lüge, die ausdrückliche Behauptung dessen, was nicht ist, ist Iphigenie
wesensunmöglich. So trifft, wenn sie ,,nach einigem Stillschweigen" (eine fast
kleistische Pantomime der Versunkenheit) sich fragt: ,,Hat denn zur unerhörten
Tat der Mann / Allein das Recht?" (1892 f.)' nicht eigentlich ,,ihr
sittlicher Wille, ihr innerstes Wesen trifft die Wahl" S. Burckhardt). Die
Entfaltung des lange gestauten und verheimlichten Wesens nun rechtfertigt auch
den Sprachprunk' wenn sie ihr ,,kühnes Unternehmen" (1913), die Wahrheit
ganz zu offenbaren, als die eigentliche weibliche Aristie das weibliche
Heldentum feiert. Mehr als eine bloß sittliche Entscheidung, geht es um ihr
ganzes Sein-Können. Im Bewußtsein des möglichen Scheiterns wagt sie sich.
Text aus: Arthur Henkel: Goethe: Iphigenie auf
Tauris; in: Benno von Wiese (Hrsg.): Das deutsche Drama vom Barock bis zur
Gegenwart; Bd.1; Düsseldorf: August Bagel Verlag 1968; S.170 - 194; hier S. 189
Text G 16
Wahrheit und Lüge*
Ihr Entschluß zur Wahrheit fällt freilich
erst, nachdem sie schon ein Opfer der Beredsamkeit des Pylades geworden ist und
Arkas gegenüber die von ihm ausgedachte Lüge der notwendigen Kultbildreinigung
ausspricht. Wie wesensfremd ihr die Lüge dennoch ist (ihre Ausflüchte und naiven
Sophismen, mit denen sie dem Eheantrag des Königs im ersten Aufzug zu entgehen
sucht, wird man noch nicht als Lügen bezeichnen können), zeigt die Tatsache, daß
sie nur als Sprachrohr des Pylades Arkas zu belügen vermag: wie du es / Mir in
den Mund gelegt, so sagt ich's ihm" (Vs. 1573f.); sie ist jedoch außerstande,
die ihr in den Mund gelegte Lüge aus eigener Initiative weiterzuspinnen, als
Arkas ihr widerspricht, und macht so auch die von Pylades übernommene Lüge
nutzlos. Mit Recht nennt dieser sie deshalb eine ,,reine Seele" (Vs. 1583). Erst
das Gespräch mit Arkas und der folgende Dialog mit Pylades, welcher ihr noch
einmal die Notwendigkeit der Lüge einschärft' öffnen Iphigenie den Blick für
deren ethische, ja metaphysische Tragweite, wie ihr Monolog mit dem Parzenlied
zeigt. Zwar nimmt sie in der Auseinandersetzung mit Thoas die Arkas gegenüber
geäußerte Unwahrheit nicht sofort zurück, aber sie vermag dieselbe trotz
zweimaliger Aufforderung des Königs, die Aufschiebung des Sühneopfers zu
begründen, nicht zu wiederholen, sondern weicht ihr aus: ,,Ich hab an Arkas
alles klar erzählt." (Vs. 1806) Wiederum ist sie nicht imstande, die von Pylades
ersonnene ,,List" der vorgeblichen Kultbildreinigung, die dessen Entführung
ermöglichen soll, wirklich in die Tat umzusetzen. Daß die im Hintergrund
gesponnene Intrige schon kurz vor der Aufklärung steht, ahnt sie nicht. Sie
glaubt, jene List immer noch zur Verfügung zu haben; mehr und mehr ringt sie
sich jedoch zum Verzicht auf dieses Mittel, auf die ,,Künste" der Intrige durch:
,,Und eine reine Seele braucht sie nicht" (Vs. 1874). Dieser Entschluß ist das
Ergebnis ihres Kampfes, ,,ein bös Geschick, das sie ergreifen will" (eben jene
Intrige zu spinnen, durch die auch sie das Opfer des Geschlechterfluchs würde),
,,im ersten Anfall mutig abzutreiben" (Vs. 1876ff.).
Die ,,unerhörte Tat" (Vs. 1893), Thoas nun die
volle Wahrheit zu gestehen, reißt sie mit einem Schlage aus der Verstrickung in
die Lüge, d.h. aus der Umklammerung durch den Fluch heraus. Es ist eine Tat, die
in voller Freiheit und ,,gegen alle Logik des eigenen parteilichen Interesses" (Jauß)
geschieht, Manifestation ihrer sittlichen Autonomie, durch die sie den
mythischen Erbzwang durchbricht.
Text aus: Dieter Borchemeyer: Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf
Tauris; in: Harro Müller-Michaels (Hrsg.): Deutsche Dramen. Interpretationen.
Bd.1: Von Lessing bis Grillparzer. Königstein/Ts.: Athenäum Verlag 2. Aufl.
1985; S. 52-87; hier S.69
9 Wie wird in beiden Texten das
Wahrheitsproblem gesehen?
10 Iphigenies ,,Risiko":
a) Beschreiben Sie das Risiko, das
Iphigenie eingehen musste.
b) Warum muss Iphigenie dieses Risiko
eingehen? Suchen Sie die entsprechenden Textstellen auf.
11 Vergleichen Sie die Lösung, die Goethe
entwickelt, mit der des antiken Mythos.
a) Welche wesentlichen Unterschiede lassen
sich feststellen?
b) Welches Menschenbild ist jeweils zu
vermuten?
12 Halten Sie Goethes Vorschlag für ein
tragfähiges Konzept? Begründen Sie vorläufig Ihre Meinung. (Sie sollten am
Schluss nochmals auf diese Frage zurückkommen!)
Text G 17
Das Anarchische des Tantalidengeschlechts, die
Gefährdung Orests, die Verzweiflung Iphigenies und die heikle Lösung des Ganzen
durch Thoas widersprechen der gängigen glättenden Deutung. Die
Wirklichkeitsferne des Stücks wird oft und mit guten Gründen getadelt: Das Stück
gibt eine Lösung, die nur für einen prinzipiellen Fall und für die vorgegebene
Konfiguration der Personen gilt. Iphigenie ist das Spiel vom Mythos, der
an manchen Stellen in die Heiligenlegende übergeht; Iphigenie stellt die
Entwicklung des neuzeitlichen Menschen dar, der als selbständiges Subjekt
gleichberechtigt den Göttern gegenübertritt; Iphigenie bedeutet
schließlich die Subjektivierung des Religiösen, das in den nachfolgenden
Jahrzehnten - im Prozeß der fortschreitenden Säkularisierung - zur
Unverbindlichkeit verkümmert. Der triadische Weg führt vom Mythos zur sittlichen
Autonomie und wieder zurück in den Mythos der Erlösung von Schuld durch
menschliche Kraft - durch die pietistisch abgesegnete Kraft der erhöhten,
priesterlichen Frau.
Text aus: Werner Keller: Das Drama Goethes;
in: Walter Hinck (Hrsg.): Handbuch des deutschen Dramas; Düsseldorf, Bagel 1980,
S.141
13 Wie beurteilt der Text die Lösung, die
Goethe vorschlägt?
14 Nehmen Sie Stellung zu dieser
Beurteilung.
4.3.5 Gesamtstruktur und Überblick
Ehe Sie sich einer Schlussdiskussion um das
,,verteufelt Humane" zuwenden, sollten Sie Ihre bisherigen Ergebnisse im
Überblick darstellen. Die folgende Skizze stellt Ihnen ein Gerüst zur Verfügung, in das Sie sowohl
Textbelege als auch abstrakte Interpretationsaussagen einordnen können.
4.3.6 Das ,,verteufelt Humane" - Spinnerei, Träumerei, Utopie oder was?
Text G 18
Goethes Meinung zum „Stück":
In einem Brief an Schiller schreibt Goethe
unter anderem:
...Hiebei kommt die Abschrift des
gräzisierenden Schauspiels. Ich bin neugierig, was Sie ihm abgewinnen werden.
Ich habe hie und da hineingesehen, es ist ganz verteufelt human. Geht alles
halbweg, so wollen wirs versuchen: denn wir haben doch schon öfters gesehen, daß
die Wirkungen eines solchen Wagestücks für uns und das Ganze inkalkulabel
sind....
Goethe an Schiller am 19.1. 1802; zit. nach:
Paul Stapf (Hrsg.): Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe; Berlin und
Darmstadt: Der Tempel- Verlag 1960, S. 743 f.)
Schiller antwortet am 20. Januar 1802 zum
Thema:
Ich werde nunmehr die Iphigenia mit der
gehörigen Hinsicht auf ihre neue Bestimmung lesen, und jedes Wort vom Theater
herunter, und mit dem Publikum zusammen, hören. Das, was Sie das Humane darin
nennen, wird diese Probe besonders gut aushalten, und davon rate ich nichts
wegzunehmen... (Text a.a.O. S. 744)
1 Wie beurteilen Goethe und Schiller das zentrale Element
des Stückes?
Text G 19
Der „verteufelt humane" Schluss*
Dass es dennoch zu dem ,verteufelt humanen'
Schluß kommt, ohne daß durch denselben der Herrscher als solcher diskreditiert
wird, liegt daran, daß sich die letzte Szene in einem vor der Öffentlichkeit
wohl abgeschirmten Rahmen ... zwischen drei Personen abspielt.
Auffallend und bedenkenswert ist, daß im
Finale der Iphigenie der König, von dem doch alles abhängt, mehr und mehr
verstummt. Auf den beiden letzten Seiten hören wir aus seinem Munde ganze vier
Wörter, die zusammen nicht einmal einen halben Vers bilden, während Orest und
Iphigenie ihre Humanitätsbotschaft in fast 70 Versen verkündigen dürfen. Dieses
Verstummen ermöglicht viele Spekulationen. Raubt der Schmerz Thoas die Sprache,
oder verhält er sich nur aus Trotz und Verbitterung reserviert (so die
fragwürdige Deutung von Rasch)? Was in ihm vorgeht, können wir nur ahnen - eines
freilich ist gewiß: er bleibt innerlich zerrüttet zurück. Darüber kann die
endgültige Ablösung der im Menschenopfer ritualisierten Xenophobie durch die
,,ältere" (Vs. 1834f.)' vom Naturrecht verlangte und nun zurückgewonnene Xenia -
das ,,freundlich Gastrecht" (Vs. 2153) zwischen Griechen und Tauriern - nicht
hinwegtäuschen. Die Tatsache ist nicht zu beschönigen, ,,daß der Skythenkönig,
der real weit edler sich verhält als seine edlen Gäste, allein, verlassen übrig
ist Er darf, eine Sprachfigur Goethes anzuwenden, an der höchsten Humanität
nicht teilhaben, verurteilt, deren Objekt zu bleiben, während er als ihr Subjekt
handelte."(Adorno)
[...]
Iphigenie scheint
Goethe seit der Italienischen Reise fremd geworden zu sein. Die eigentümliche
Äußerung über ihren ,,ganz verteufelt humanen" Charakter (an Schiller,
19.1.1802)67 deutet die Skepsis gegenüber dem in ihr konstituierten
Harmoniemodell und seinen von den Hoffnungen des Reformpolitikers Goethe während
der ersten Weimarer Jahre bestimmten politisch-sozialen Implikationen an.
Grenzen und Opfer der ,Humanität' werden freilich, wie wir gezeigt haben, im
Drama selbst keineswegs verdeckt. Daß zudem die im Schlußakt gegebene Lösung der
Konflikte in Bezug auf die Realität nur ein utopisches Signal ist -
gewissermaßen jenes Vorbild, das nach den Worten des Pylades als nie
erreichbarer Schatten vor uns flieht, ,,in einer weiten Ferne / Der Berge Haupt
auf goldnen Wolken krönt" (Vs. 695f.) -, das sollte nicht verkannt werden.
Versteht man das ,,Humane" als ein solches Sign4 und Postulat, als den nur in
einer ins Unendliche fortschreitenden Annäherung realisierbaren Zustand des
gewalt- und herrschaftsfreien Miteinanders, als ,,Ideal" im Sinne Schillers'
dann wird man sich dessen Rat in seiner Antwort auf Goethes skeptischen Brief
nicht verschließen können: von dem, ,,was Sie das Humane darin nennen", doch ja
,,nichts wegzunehmen" (20.1.1802), gründe in ihm doch die Hauptwirkung des
Stücks - ja, so dürfen wir wohl ergänzen: das, was uns nicht weniger als die
Zeitgenossen Goethes verpflichtet; denn es umschließt regulative Ideen auch
unserer privaten und gesellschaftlichen Existenz.
Text aus: Dieter Borchemeyer: Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf
Tauris; in: Harro Müller-Michaels (Hrsg.): Deutsche Dramen. Interpretationen.
Bd.1: Von Lessing bis Grillparzer. Königstein/Ts.: Athenäum Verlag 2. Aufl.
1985; S. 52-87; hier S.82
2 Borchemeyer geht auf Goethes Meinung ein. Wie bewertet
er sie?
3 Wie sieht Borchemeyer die Situation des
Thoas? Wie bewertet er von hier aus den Schluss?
Text G 20
Der Schluss*
Daß Thoas schließlich der Macht des Appells
erliegt, macht das gute Ende des Dramas aus, das uns nur eine Minderheit
moderner Kritiker gönnt. Die tragische Wendung wird auch nur berührt. Das
finstere Schweigen des Thoas stürzt Iphigenie in die Vorhöllen der Angst, zuviel
gewagt zu haben und damit den Bruder und den Freund zu vernichten (1942 ff.).
Thoas aber redet, bleibt mitmenschlich, wenngleich er dem gesteigerten Flehen
Iphigeniens das Rückzugsgefecht des Hintergangenen liefert. Iphigenie appelliert
an den König in Thoas (1973), damit er es wahrhaft ist. So bindet ihn
sein Wort (293 ff.).
[...]
Wie wenig hat Thoas noch zu sagen! Und doch
ist es gut, daß schnell ins Ende moduliert wird - über die Bilder des entsühnten
Atridenhauses und eines für immer verbürgten wechselseitigen Gastrechts, die
Stilisierung des Thoas ins Väterlich-Milde bis zu seinem ,,Lebt wohl!" Denn so
sehr die erscheinende Wahrheit aufs Wort angewiesen ist, so wenig verträgt ihr
bebendes Wagnis das Bereden. Schon beginnen die Stilisierungen. Iphigenie als
,,Heilige" verehrt, als Wundertätige (2119 f.), als Erlöserfigur, als
wandelnder Gnadenschatz - sie rückt schon fast in die Erhabenheit der Legende.
Fast, denn noch füllt ihre bezwingende, tränenumflorte (2171) Stimme die
Szenerie des Abschieds. Es fällt schwer zu leugnen, daß sie gerade da
,,verteufelt human" ist.
So ist Goethes lässiges Wort an Schiller oft
zitiert worden, im Sinne einer sentimentalen Humanität. Selten ist der Kontext
beachtet worden. Da ist von ,,Wagestück" die Rede und von ,,incalculablen"
Wirkungen. Ist das nicht, in der Ironie der größeren Distanz wiederaufgenommen,
die Selbstinterpretation der Entstehungszeit? Damals war vom ,,Abenteuer" und
,,einigen Händen Salz ins Publikum" die Rede. Daß er sein Werk in der Nähe der
Utopie angesiedelt habe, blieb ihm stets gegenwärtig. Meinte er vielleicht mit
dem ,,verteufelt human", anstatt die Botschaft Iphigeniens selbst zu
verdächtigen, nicht vielmehr die Gefahr, daß dem Adjektiv ,,human" gar zu leicht
die depravierte Nuance eignet, der Abfall ins Handliche des moralischen Geredes,
wenn der angefochtene, tief paradoxe Sinn des ,,Rein-Menschlichen" nicht mehr
gespürt wird?
Text aus: Arthur Henkel: Goethe: Iphigenie auf
Tauris; in: Benno von Wiese (Hrsg.): Das deutsche Drama vom Barock bis zur
Gegenwart; Bd.1; Düsseldorf: August Bagel Verlag 1968; S.170 - 194; hier S. 190
f. u. S.193
4 Auch Henkel geht bei der Bewertung des Schlusses von Thoas aus.
a) Wie bewertet er die dramatische
Situation?
b) Inwiefern kann er nun gegen den Vorwurf
einer ,,sentimentalen Humanität" argumentieren?
c) Welche Vermutungen schließt er an das
Goethe-Zitat an?
Text G 21
Die „Utopie der Schlussszene"*
Die Utopie der Schlußszene des Dramas jedoch
will es anders:
Der drohende Zweikampf zwischen Orest und
Thoas, dem dieser sich großmütig stellt, wird durch Iphigenie vorerst
verhindert. Sie, die durch die Friedenstat der Wahrheit ein neues
weiblich-humanes Heldentum an die Stelle des männlich-kriegerischen setzen
wollte, faßt das von der Nachwelt übergangene Leid der Frauen, der eigentlichen
Opfer des Kriegs, in eine Klage, die zur - weiblichen - Dichtung macht, wovon
sonst ,,der Dichter schweigt" (Vs. 2071).
Thoas ,,erliegt' jedoch in der Schlußszene
keineswegs Iphigenies Appell an die Menschlichkeit, wie W. Rasch in Widerspruch
zur opinio communis überzeugend nachgewiesen hat. Die Schlüsselfunktion kommt am
Ende nicht ihr, sondern Orest zu. Der König beharrt auf der Entscheidung durch
die Waffen, bis Orest den Sinn des Orakelspruchs ,aufklärt': nicht ApolIs
Schwester Diana, der Entwendung ihres Kultbilds, sondern Orests Schwester
Iphigenie, ihrer Heimführung gilt der Spruch.
[...]
Die Götter werden zum ,Ideal' der Humanität.
Die ,Aufklärung' des Orakels zwingt Thoas nun,
Iphigenie freizugeben. ,,Wenn du nach Hause Rückkehr hoffen kannst" - wenn das
durch einen ,,Wink" der Göttin offenbar werde -, ,,So sprech ich dich von aller
Fordrung los." So hat Thoas in Vs. 290ff. Iphigenie ausdrücklich versichert.
Orests Orakeldeutung - als die eigentliche Lösung des dramatischen Knotens - ist
dieser ,Wink'. Iphigenie erinnert nun in Vs. 2146 den König an das einst
gegebene Versprechen (,,Denk an dein Wort ). Thoas hat keine Wahl mehr; nur daß
die Entlassung der Fremden im Guten geschieht, das unwillige ,,So geht!" (Vs.
2151) durch ein ,,holdes Wort des Abschieds" (Vs. 2169) ersetzt wird, ist das
Ergebnis des humanen Schlußappells der Titelheldin.
Text aus: Dieter Borchemeyer: Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie auf
Tauris; in: Harro Müller-Michaels (Hrsg.): Deutsche Dramen. Interpretationen.
Bd.1: Von Lessing bis Grillparzer. Königstein/Ts.: Athenäum Verlag 2. Aufl.
1985; S. 52-87; hier S.70 f.
Text G 22
Utopie und Wahrheit*
Wenn wir aber gewohnt sind, in den poetisch
vereitelten Theodizeen das Ärgernis in der Konfrontation mit der Verderbtheit
der Welt zu erblicken, im schreienden Unrecht, in der Korrumpiertheit der
,,Verhältnisse" und in der verletzenden Inhumanität und Sinnlosigkeit der
Endzustände, so wagt Goethe das positive Ärgernis. Er läßt die ,,Wahrheit"
(1938) zur Stimme werden in der Höhe einer Sittlichkeit an jener Grenze,
wo Utopia beginnt. Ob wir Utopia sein können, ist eine Frage über das Drama
hinaus. Der dramatische Vorgang zielt auf die sich steigernden Momente einer ans
Licht tretenden Wahrheit.
Text aus: Arthur Henkel: Goethe: Iphigenie auf
Tauris; in: Benno von Wiese (Hrsg.): Das deutsche Drama vom Barock bis zur
Gegenwart; Bd.1; Düsseldorf: August Bagel Verlag 1968; S.170 - 194; hier S.171
5 Beide Texte sprechen von einer Utopie, die der
Dramenschluss entwirft.
a) Klären Sie mit Hilfe eines (größeren)
Lexikons den Begriff ,,Utopie".
b) Worin besteht nun der Kern der Utopie?
Der folgende Text greift die Frage nach
Schicksal und Autonomie auf und konzentriert sich nochmals auf Goethes
Humanitätsidee:
Text G 23
Iphigenie: Der Mensch zwischen Schicksal und
Autonomie*
Sind die Götter gut, oder waltet ein
unbegreifliches Schicksal? Wenn lphigenie mit Orest und Pylades zugrundegeht,
beherrscht ein blinder Wille die Welt. Wird sie gerettet, dann erfüllt sich ihr
Glaube an die Vorsehung.
Die Rettung vollbringt sie aber selbst, indem
sie zu Thoas die Wahrheit spricht und ihn durch ihr Vertrauen nötigt,
vertrauenswürdig und gut zu sein. Wer hat ihr die Kraft zur Rettung gegeben, zu
jener ,,unerhörten Tat", in der ein weibliches, aus gesammelter Stille wirkendes
Heldentum das rasche, auf den Augenblick begrenzte des Mannes überwindet? Eine
unmittelbare Antwort wäre verfrüht. Wesentlich . . . ist der Umstand, daß hier
der Mensch, der vom Verhängnis heimgesuchte, durch sein Verhalten den Ausschlag
gibt, daß, um es ganz unmißverständlich zu sagen, auch die Wahrheit über die
Götter in den Händen des Menschen ruht. Der Mensch steht gleichsam in der Mitte
zwischen Schicksal und Vorsehung. Er hat sein Volk, seine Eltern, den Umkreis
seines Daseins nicht selber gewählt. Insofern fühlt er sich unterworfen. Doch
wie er sein Erbe gestalten, welchen Sinn er dem Leben geben will, bleibt seiner
Freiheit überlassen . . .
Der Schluß der ,,lphigenie auf Tauris"
entscheidet die schwankende Möglichkeit zugunsten der Vorsehung. Der Mensch ists,
der ihr zum Sieg verhilft, indem er ihrer einzig in der Ahnung vernehmlichen
Stimme gehorcht.... [Es] bewährt sich hier die Theodizee im Sinne des von
Glaube, Hoffnung und Liebe eingegebenen Worts:
Alle menschlichen Gebrechen / Sühnet reine
Menschlichkeit.
Denn wo wir den Sinn der Humanität in
Iphigeniens Geist auffassen, da sollte uns klar geworden sein, daß nirgends ein
Mensch an sich besteht, daß jedes Menschen Wesen sich nur im Umgang mit anderen
Menschen bildet, daß ,,wirklich" nur der Mitmensch ist und also unser Mangel an
Liebe und schöpferischem Vertrauen die Bosheit unseres Nachbarn mitverschuldet.
In dieser Hinsicht fällt die Kritik an Goethes Humanitätsidee auf den Kritiker
selbst zurück und meldet jene Trägheit des Herzens an, die sich von jeher gern
auf ein widriges Fatum herausgeredet hat.
Text aus: Emil Staiger: Goethe; 3 Bde.;
Zürich: Atlantis 2. Aufl. 1957 ff.; S. 378 ff.
6 Wie sieht Staiger die Idee der Humanität
in „Iphigenie" realisiert?
- Wo sieht er Handlungsmotive für
Iphigenie?
- Worin besteht nach ihm Iphigenies
„Leistung"?
- Wie sieht er das Theodizee - Problem
(Frage nach der Gerechtigkeit der Götter) gelöst?
7 Inwiefern hat sich Iphigenie nicht auf
ein „widriges Fatum" herausgeredet?
8 Inwiefern spielt nach Staiger der
„Mitmensch" für Iphigenie die entscheidende Rolle?
9 Diskutieren Sie nun den Schluss des Dramas aus Ihrer
Sicht:
- Halten Sie die Handlungsmaximen
Iphigenies für praktikabel/wünschenswert/ realistisch?
- Hat Iphigenie verantwortungslos
gehandelt, als sie nicht nur ihr eigenes sondern auch das Leben von Orest
und Pylades riskierte?
- Ist der von Goethe aufgezeigte Weg ein
gangbarer Weg, um Tragik zu vermeiden?
- Inwiefern handelt Iphigenie ,,selbstbestimmt"?
4.4 Das „verteufelt Humane" - und wie man damit fertig werden kann
1 Sie haben sich schon im Rahmen des von Ihnen behandelten
Stückes mit den jeweiligen „Kernproblemen" beschäftigt. Nun sollten Sie
Präsentationen vorbereiten, die die andern ins Bild setzen können, d.h.:
- Sie sollten die wesentlichen Ergebnisse präsentieren.
(Bedenken Sie: Ergebnisse werden nur dann als solche nachvollziehbar, wenn
man die genauere Problemstellung kennt!)
- Sie sollten die wichtigsten Wege skizzieren, die zu den
Ergebnissen führten. (Bedenken Sie: Ihre Zuhörer haben nicht alle
Überlegungen angestellt, die Sie angestellt haben.)
2 Wenn auch beide Stücke auf den ersten Blick nicht zu
„vergleichen" sind, so sollten Sie doch versuchen, die Grundfragen zu
formulieren, mit denen sich die „Helden" beider Stücke konfrontiert sehen.
Diese Fragen (und die jeweils „gefundenen" Antworten)
könnten Sie in einer größeren Runde diskutieren. (Dabei könnten sich
einzelne „Anwälte" und Experten bestimmter Positionen annehmen...)
Wenn Ihnen nichts weiter einfällt: hier einige Vorschläge:
3 Goethe und Schiller im Vergleich
Veranstalten Sie ein Hearing zum Thema „Humanität - die
Lösung im Konfliktfall?
Hinweis: Zur Vorbereitung sollte sich eine Expertengruppe
aus beiden „Lagern" bilden. Diese Gruppe entwirft Fragen und
„Beispielfälle", die in der Verhandlung von Experten des jeweiligen „Lagers"
geklärt werden sollen.
4 Experimente - oder: Das könnte ein Nachspiel haben!
a) Stellen Sie sich vor: Posa würde Iphigenie als
Berater zur Seite stehen. Spielen Sie das Stück neu.
Vorbereitende Überlegungen:
- An welchen Stellen würde Posa notwendig werden?
- Was würde Posa raten?
- Welchen Verlauf würde die Handlung nehmen, falls
Iphigenie seinen Rat annähme?
- Würde Iphigenie auf Posa hören?
b) Versetzen Sie sich in die Rolle Iphigenies
(Übernehmen Sie vor allem ihre Haltung!). Stellen Sie sich vor: Sie treten
in Schillers Drama an Stelle Posas ein. Spielen Sie die wichtigsten Szenen
neu durch.
Vorbereitende Überlegungen:
- Was wird anders in der Audienzszene?
- Wie weit würde sich Philipp verändern?
- Wie würde ihr Verhalten gegenüber Carlos aussehen?
- Wie würde der Großinquisitor auf Iphigenie reagieren?
3 ..und nun zu uns...
Suchen Sie sich aus ihrem Stück diejenigen Textstellen,
Szenen usw., die Sie am meisten (am wenigsten?) überzeugten/beeindruckten.
Entwerfen Sie zu diesen Stellen kurze Szenen, Monologe usw. aus Ihrem
eigenen Erlebenshorizont.
Hier finden Sie geeignete
Interpretationshilfen:
http://www.amazon.de/Iphigenie-Tauris-Interpretationshilfe-Interpretationshilfen-ebook/dp/B00BKNPDDU/ref=sr_1_6/277-4504070-1100669?s=books&ie=UTF8&qid=1372053988&sr=1-6
|
| |
| |