Sophokles

 

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1       Konflikt und Schicksal:  Die griechische Tragödie (Sophokles)

 

1.0       Wichtiges vorweg

 

Sie werden sich im Verlauf dieses Kapitels mit der griechischen Tragödie, insbesondere mit zwei Werken des Autors Sophokles beschäftigen. Wir schlagen vor, dass sich Ihr Kurs in zwei getrennten Gruppen je einer der beiden Tragödien intensiver zuwendet und dann im Plenum die Ergebnisse präsentiert und vergleicht. Sie sollten aber, ehe Sie sich für die eine oder die andere Gruppe entscheiden, beide Werke gelesen haben.

Notieren Sie sich bei der Lektüre alles, was Ihnen „frag-“würdig erscheint. Auch Dinge, die Sie nicht so recht verstehen, sollten Sie notieren.

Ehe Sie sich dann den beiden Werken zuwenden, sollten Sie sich im Plenum mit den folgenden Texten und Fragestellungen beschäftigen. Sie werden für beide Tragödien interessant.

Natürlich könne Sie auch diese Vorarbeiten arbeitsteilig erledigen. Wichtig ist nur, dass alle alle wichtigen Informationen haben, ehe sie mit der weiteren Arbeit beginnen. Sollten Sie sich für ein arbeitsteiliges Verfahren entscheiden, so schlagen wir vor, die Arbeit entsprechend den folgenden Teilüberschriften zu gliedern. Im Plenum sollten dann die einzelnen Gruppen ihre Ergebnisse präsentieren (Arbeitspapier; Plakat; Folie; Übersichtsskizzen; Kurzreferat...)

 

1.0.1    Der Autor Sophokles

Text S1

Leben und Werk

 

Eine Generation jünger als Aischylos, erlebte Sophokles (497/8-4o6/5) als junger Mann die außenpolitischen Triumphe der jungen Demokratie: Als Sechzehnjähriger soll er bei der Feier anläßlich des Sieges von Salamis den Dankgesang angestimmt haben. Wie bei keinem der an­deren Dramatiker ist Sophokles' Leben geprägt durch die Verflechtung von Religion, Kult, Politik und Dichtung, durch Athen und die attische Demokratie: In den Jahren 443/2 bekleidete er das Amt eines Hellenotamias und war somit einer der zehn führenden Männer des attisch-delischen Seebundes, die die Bundeskasse verwalteten. Im Samischen Krieg (441-439) war er 441/440 Stratege zusammen mit Perikles, zu dessen engerem Kreis er gehör­te. Dasselbe Amt hatte er noch einmal 428 inne, in der ersten Phase des Peloponnesischen Kriegs, dem sog. Archidamischen Krieg (431-421). Als nach der verheerenden Niederlage des athenischen Heeres auf Sizilien die radikale Demokratie, der man die Schuld an der Katastro­phe zuwies, eingeschränkt werden sollte, gehörte er 413/ 412 dem Gremium der Probulen an, einer dem Rat übergeordneten, vorberatenden Kommission. Daneben bekleidete Sophokles auch kultische Ämter: Er war Priester des Heros Halon und maßgeblich an der Einführung des Asklepioskultes aus Epidauros nach Athen beteiligt (420). Nach seinem Tod wurde er dafür als Heros Dexion verehrt.

[...]

Als tragischer Dichter war Sophokles ungewöhnlich erfolgreich: Mit seiner ersten Tetralogie errang er 468 sogleich den ersten Platz im Agon; auch in der Folgezeit blieb ihm der Erfolg treu: Mit 30 Tetralogien errang er 18 Siege, Dritter, d. h. Letzter, wurde er nie.

(Text aus: Bernhard Zimmermann: Die griechische Tragödie. Artemis und Winkler; München, Zürich 2 1992, S. 63 ff)

 1        In welchem politischen Kontext ist Sophokles zu sehen? Informieren Sie sich (Geschichtsbuch!) über

          - Regierungsform (Perikles...)

          - Politische Verhältnisse in „Griechenland“ (attischer Seebund...)

2        Was kann ein Dichter in einer solchen politischen Umgebung „bewirken“?

          Diskutieren Sie die Frage und halten Sie Ihre Vermutungen in Stichpunkten fest.

 

1.0.2  Zur Geschichte der Tragödie

 

Sie haben sich schon mit dem Begriff „Tragik“ und „Tragödie“ beschäftigt. In welchem kulturellen Kontext sind die Ursprünge der Tragödie zu sehen?

 

Text S2

Die feste Bindung der Tragödie an den Dionysoskult, die Masken, die von den Akteuren während einer Auffüh­rung getragen wurden, sowie der Name tragodía wei­sen auf vorliterarische Wurzeln. Gesang, einfache mimetische Darbietungen und das Tragen von Masken sind mit verschiedenen kultischen Anlässen verbunden. Die Be­deutung des Wortes tragodía ist nach wie vor umstrit­ten. Die meiste Wahrscheinlichkeit hat die Annahme, daß man den Ausdruck mit >Gesang anläßlich eines Bockop­fers< wiedergeben kann.

Neben diesem dunklen kultischen Ursprung muß man -in der Nachfolge von Aristoteles (Poetik c. 4, 1449a 9-11. 19-21)- eine literarische Wurzel annehmen.

(Text aus: Bernhard Zimmermann: Die griechische Tragödie. Artemis und Winkler; München, Zürich 2 1992, S. 13)

 1        Tragen Sie aus einschlägigen Lexika weitere Informationen zur Frage nach den Ursprüngen der Tragödie zusammen.

2        Die folgende Abbildung zeigt das Dionysos-Theater. (Rekonstruktion). Was lässt sich aus beiden Darstellungen über Aufführungsgepflogenheiten sagen?

3        Entwerfen Sie einen Regieplan für die Eröffnungsszene Ihres Stückes.

 

 

1.0.3  Der Mythos als Stoff für Tragödien

 

Text S 4

Mythen sind Symbole des Glaubens, die zu Geschichten verbunden sind, in denen Begegnungen zwischen Göttern und Menschen erzählt werden.

Die Mythen sind in jedem Akt des Glaubens gegenwärtig, denn die Sprache des Glaubens ist das Symbol. Andererseits werden sie in allen großen Religionen der Menschheit angegriffen, kritisiert und transzendiert. Der Anlaß hierfür liegt im Wesen des Mythos selbst, der seinen Stoff aus unserer alltäglichen Erfahrung nimmt und die Göttergeschichten in Zeit und Raum geschehen läßt, obwohl es ge­rade zum Wesen des Unbedingten gehört, jenseits von Zeit und Raum zu sein. Vor allem aber wird im Mythos das Göttliche in mehrere Gestalten aufgespalten, wo­durch die Unbedingtheit jeder einzelnen Gestalt aufgehoben ist, ohne daß ihr An-spruch auf Unbedingtheit aufgegeben wäre. Das führt unausweichlich zu Konflik­ten der einzelnen Unbedingtheitsansprüche untereinander   Konflikten, die die Macht haben können, Leben, Gemeinschaft und Bewußtsein zu zerreißen.

Die Kritik am Mythos richtet sich in erster Linie gegen die Aufspaltung des Gött­lichen; sie versucht, die Aufspaltung zu überwinden und zu einem Gott zu kom­men. Aber auch, wenn nur ein Gott geblieben ist, hat der Mythos nicht aufgehört. Denn dieser eine Gott wird in Zeit und Raum hineingezogen, wenn man von ihm spricht. Auch seine Unbedingtheit ist bedroht, wenn er zu einem konkreten Glau­bensinhalt gemacht wird. Daher hört die Kritik am Mythos mit der Ablehnung der polytheistischen Mythologie nicht auf.

Auch der Monotheismus fällt unter die Kritik am Mythos und bedarf, wie man heute sagt, der ,,Entmythologisierung“. Dieses Wort wurde zuerst gebraucht im Zusammenhang mit der Herausarbeitung der mythischen Elemente in den Erzäh­lungen und Symbolen der Bibel - sowohl des Alten als auch des Neuen Testa­ments. Es ging um Erzählungen wie die vom Paradies, vom Fall Adams, von der Sintflut, vom Auszug der Ägypter, von der Jungfrauengeburt des Messias, von vielen seiner Wunder, von seiner Auferstehung und Himmelfahrt, von seiner zu er­wartenden Wiederkunft als Richter des Weltalls. Mit einem Wort, alle Erzählun­gen, in denen ein wechselseitiges Handeln zwischen Gott und Mensch geschildert wird, werden zum Gegenstand der Entmythologisierung gemacht. Was bedeutet dieser negative und künstliche Begriff? Er muß bejaht werden, wenn er besagt, daß ein Symbol als Symbol und ein Mythos als Mythos verstanden werden muß. Er muß abgelehnt werden, wenn mit seiner Hilfe Symbole und Mythen überhaupt zum Verschwinden gebracht werden sollen. Ein solches Unternehmen kann nie­mals Erfolg haben, weil Symbol und Mythos Formen des menschlichen Bewußtseins sind. Man kann einen Mythos durch einen anderen ersetzen, aber man kann den Mythos nicht aus dem geistigen Leben des Menschen entfernen. Denn Mythos ist die Verbindung von Symbolen, die ausdrücken, was uns unbedingt angeht.

Ein Mythos, der als Mythos verstanden, aber nicht bestätigt oder ersetzt wird, kann „gebrochener Mythos“ genannt werden..... Alte mythologi­schen Elemente in der Bibel, im Dogma und in der Liturgie müssen als solche er­kannt werden. Aber man sollte an ihnen als Symbole festhalten und sie nicht durch wissenschaftliche Surrogate ersetzen wollen. Es gibt keinen Ersatz für Sym­bole und Mythen, sie sind die Sprache des Glaubens.

(Text aus: Paul Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens, Ullstein-Buch Bd. 318, Frankfurt -Berlin 1961,S.61 - 63)

 1        Was versteht Tillich unter einem „Mythos“?

2        Welche Funktion(en) hat der Mythos? Ws „leistet“ der Mythos?

3        Warum kann die Menschheit nach Tillich nicht auf Mythen verzichten?

 Text S 5

Die größte Herausforderung stellte die Konvention dem athenischen Dramatiker des 5. Jahrhunderts bei der inhaltlichen Konzipierung seines Stückes: Das Hand­lungsgerüst der Tragödien war durch den Mythos vorge­geben. Die Leistung des Dichters bestand demnach nicht in der Erfindung der Fabel ... , sondern im Auffüllen des durch den tragischen Mythos vorgegebenen Rahmens durch Motivation und Charakterisierung, durch das Hervorheben und Ver­schleiern von Handlungsfäden, durch das Einfügen von Nebenfiguren, kurz gesagt, durch die neue Deutung eines vorgegebenen Stoffes... Die Spannung des Publikums war demnach nicht auf den Ausgang des Stücks gerichtet, sondern darauf, wie es der Dichter zu dem durch den Mythos vorbestimmten Ende kommen ließ.

(Text aus: Bernhard Zimmermann: Die griechische Tragödie. Artemis und Winkler; München, Zürich 2 1992, S. 20 f)

4        Worin besteht genau die Leistung des Dichters, wenn ihm der Stoff schon vorgegeben ist?

5        Warum ist gerade der Mythos als Stoff für die Tragödie geeignet?

 1.0.5  Der Chor in der Tragödie

 

Wahrscheinlich hat Sie bei der ersten Lektüre der beiden Dramen am meisten der Chor - wenn nicht gestört, so doch - irritiert. Was ist Ihrer Meinung nach die Aufgabe des Chors? Notieren Sie Ihre Vermutungen.

Textfeld:

 

Text S 6

 

Chor und Handlung in der griechischen Tragödie

 

Nun ist aber der Mensch so gebildet, daß er immer von dem Besondern ins Allgemeine gehen will, und die Reflexion muß also auch in der Tragödie ihren Platz erhalten. Soll sie aber diesen Platz verdienen, so muß sie das, was ihr an sinnlichem Leben fehlt, durch den Vortrag wiedergewinnen, denn wenn die zwei Elemente der Poesie das Ideale und Sinnliche nicht irluig verbunden zusammen wirken, so müssen sie nebeneinander wirken, oder die Poesie ist aufgehoben. Wenn die Waage nicht vollkommen inne steht, da kann das Gleichgewicht nur durch Schwankung der beiden Schalen hergestellt werden.

Und dieses leistet nun der Chor in der Tragödie. Der Chor ist selbst kein Individuum, sondern ein allgemeiner Begriff, aber dieser Begriff repräsentiert sich durch eine sinnlich mächtige Masse, welche durch ihre ausfüllende Gegenwart den Sinnen imponiert. Der Chor verläßt den engen Kreis der Handlung, um sich über Vergangenes und Künftiges, über ferne Zeiten und Völker, über das Menschliche überhaupt zu verbreiten, um die großen Resultate des Lebens zu ziehen, und die Lehren der Weisheit auszusprechen. Aber er tut dieses mit der vollen Macht der Phantasie, mit einer kühnen lyrischen Freiheit, welche auf den hohen Gipfeln der menschlichen Dinge wie mit Schritten der Götter einhergeht - und er tut es von der ganzen sinnlichen Macht des Rhythmus und der Musik iii Tönen und Bewegungen begleitet.

Der Chor reinigt also das tragische Gedicht, indem er die Reflexion von der Handlung absondert, und eben durch diese Absonderung sie selbst mit puetischer Kraft ausrüstet; ebenso wie der bildende Künst­ler die gemeine Notdurft der Bekleidung durch eine reiche Draperie iii einen Reiz und in eine Schönheit verwandelt.

(F. Schiller: Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie; [Vorrede zu Die Braut von Messina] ; Text nach: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hrsg. v. Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert; Carl Hanser Verlag Stuttgart 4 1965; Bd.2, S. 815 ff; Ausschnitt)

 

Text S 7

Ich komme auf eine andre Eigenheit, welche die alte Tragödie von der unsrigen unterscheidet: den Chor. Wir müssen ihn begreifen als den personifzierten Gedanken über die dargestellte Handlung, die verkörperte und mit in die Darstellung aufgenommene Teilnahme des Dichters als des Sprechers der gesamten Menschheit. [...] Der Chor ist mit einem Worte der idealisierte Zuschauer. Er lindert den Eindruck einer tief erschütternden oder tief rührenden Darstellung, indem er dem wirklichen Zuschauer seine eignen Regungen schon lyrisch, also musikalisch ausgedrückt entgegenbringt und ihn in die Region der Betrachtung hinaufführt.

(A. W. Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, 5. Vorlesung)

 

Text S 8

Aristoteles' Lob für Sophokles stellt ... das wesentliche Merkmal der Sophokleischen Chöre heraus: Zwar erhält in keiner der erhaltenen Tragödien die Handlung durch den Chor entscheidende Anstöße, aber der Chor nimmt als festum­rissene >dramatische Person< am Geschehen teil, und aus der Rolle heraus, die er im Stück innehat, müssen auch seine Äußerungen verstanden werden.

(Text aus: Bernhard Zimmermann: Die griechische Tragödie. Artemis und Winkler; München, Zürich 2 1992, S. 30)

 

Text S 9

Es ist in neuerer Zeit viel über die Bedeutung des griechischen Chors gesprochen und dabei die Frage aufgeworfen worden, ob er auch in die moderne Tragödie eingeführt werden könne und solle. Man hat nämlich das Bedürfniß solch einer substantiellen Grundlage gefühlt, und  sie doch zugleich nicht recht anzubringen und einzufügen gewußt, weil man die Natur des echt Tragischen und die Nothwendigkeit des Chors für den Standpunkt der griechischen Tragödie nicht tief genug zu fassen verstand. Einer Seits näm­lich hat man den Chor wohl insofern anerkannt, als man gesagt hat, daß ihm die ruhige Reflexion über das Ganze zukomme, während die handelnden Personen in ihren besonderen Zweken und Situationen befangen blieben, und nun am Chor und sei­nen Betrachtungen ganz ebenso den Maaßstab des Werths ihrer Charaktere und Handlungen erhielten, als das Publikum an ihm in dem Kunstwerke einen objektiven Repräsentanten seines eige­nen Urtheils über das fände, was vor sich geht. Mit dieser Ansicht ist theilweise der rechte Punkt in der Rüksicht getroffen, daß der Chor in der That als das substantielle höher, von falschen Konflikten abmahnende, den Ausgang bedenkende Be­wußtseyn dasteht. Dessenohngeachtet ist er doch nicht etwa eine bloß äußerlich und müßig wie der Zuschauer reflektirende mora­lische Person, die, für sich uninteressant und langweilig, nur um dieser Reflexion wegen hinzugefügt wäre, sondern er ist die wirkliche Substanz des Sittlichen heroischen Lebens und Handelns selbst, den einzelnen Heroen gegenüber das Volk als das frucht­bare Erdreich, aus welchem die Individuen, wie die Blumen und hervorragenden Bäume aus ihrem eigenen heimischen Bo­den, emporwachsen, und durch die Existenz desselben bedingt sind. So gehört der Chor wesentlich dem Standpunkte an, wo sich den sittlichen Verwikelungen noch nicht bestimmte rechtsgültige Staatsgesetze und feste religiöse Dogmen entgegenhalten lassen, sondern wo das Sittliche nur erst in seiner unmittelbar leben­digen Wirklichkeit erscheint, ...

(Text aus: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Dritter Band; Sämtliche Werke; Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden; Hrsg. Hermann Glockner; Fr.Frommanns Verlag Stuttgart 1954; Bd. 14 S. 547 f)

 

1        Welche Aufgabe hat - nach den Texten - der Chor? Belegen Sie einzelne Aussagen.

          - Wo greift der Chor als „handelnde Person“ in das Geschehen ein?

          - Wo wird kommentiert? Wo be- (ver-) urteilt?

          - Wo vertritt der Chor die „Volksmeinung“?

          - Wo steht der Chor für das Gesetz? (Für welches?)

          Hinweis: Sie können auch gegen die hier vorgeschlagenen Fragen argumentieren, indem Sie sie negativ beantworten und das jeweilige Gegenteil beweisen!

2        Wie stehen die jeweils handelnden Individuen/Helden zum Chor?

 

1.0.6  Konflikte

 

Aus der Beschäftigung mit dem Begriff „Tragik“ ist Ihnen auch der Begriff „tragischer Konflikt“ bekannt. Notieren Sie, was er Ihrer Meinung nach bedeutet.

 

Text S 10

In der griechi­schen Tragödie nun ist es nicht etwa böser Wille, Verbrechen, Nichtswürdigkeit, oder bloßes Unglück, Blindheit und dergleichen, was den Anlaß für die Kollisionen hervorbringt, sondern, wie ich schon mehrfach sagte, die sittliche Berechtigung zu einer be­stimmten That. Denn das abstrakt Böse hat weder in sich selbst Wahrheit, noch ist es von Interesse. .... 

Der Hauptgegensatz, den besonders Sophokles... auf's schönste behandelt hat, ist der des Staats, des sittlichen Lebens in seiner geistigen Allgemeinheit und der FamiIie als der natürlichen Sittlichkeit. Dieß sind die reinsten Mächte der tragischen Darstellung, indem die Harmonie dieser Sphären und das einklangsvolle Handeln innerhalb ihrer Wirklichkeit die vollständige Realität des sitt­lichen Daseyns ausmacht. Ich brauche in dieser Rücksicht nur an Aeschylus' Sieben vor Theben und mehr noch an die Anti­gone des Sophokles zu erinnern. Antigone ehrt die Bande des Bluts, die unterirdischen Götter, Kreon allein den Zeus, die waltende Macht des öffentlichen Lebens und Gemeinwohls. [...]

Dieß ist ein für alle Zelten gültiger Inhalt, dessen Darstellung daher, aller nationalen Unterschiede zum Trotz, auch unsere menschliche und künstlerische Theilnahme gleich rege erhält.

[...]

Formeller schon Ist eine zweite Hauptkollision, welche die griechischen Tragiker besonders in dem Schicksal des Oedipus darzustellen liebten, wovon uns Sophokles das vollendetste Bei­spiel in seinem Oedipus rex und Oedipus auf Kolonos zurück­gelassen hat. Hier handelt es sich um das Recht des wachen Bewußtfeyns, um die Berechtigung  dessen, was der Mensch mit selbstbewußtem Wollen vollbringt, dem gegenüber, was er unbewußt und willenlos nach der Bestimmung der Götter wirk­lich gethan hat. Oedip hat den Vater erschlagen, die Mutter geheirathet, In blutschänderischem Ehebette Kinder gezeugt, und dennoch ist er ohne es zu wissen und zu wollen in diese ärgsten Frevel verwickelt worden. Das Recht unseres heutigen tieferen Bewußtfeyns würde darin bestehen, diese Verbrechen, da sie weder im eigenen Wissen noch Im eigenen Wollen gelegen haben, auch nicht als die Thaten des eigenen Selbst anzuerkennen; der plastische Grieche aber steht ein für das, was er als Indivi­duum vollbracht hat, und zerscheidet sich nicht in die formelle Subjektivität des Selbßtbewußtseyns, und in das, was die ob­jektive Sache ist.

[...]

(Text aus: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Dritter Band; Sämtliche Werke; Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden; Hrsg. Hermann Glockner; Fr. Frommanns Verlag Stuttgart 1954; Bd. 14 S. 550-552f)

 

1        Welche Möglichkeiten eines Konflikts sieht Hegel?

2        Welche Interpretationsansätze ergeben sich aus diesen Überlegungen für Antigone bzw. Ödipus?

Text S 11

So berechtigt als der tragische Zweck und Charakter, so notwendig als die tragische Kollision ist daher drittens auch die tragische Lösung dieses Zwiespalts  Durch sie nämlich übt die ewige Gerechtigkeit sich an den Zwecken und Individuen in der Weise aus, daß sie die sittliche Sub­stanz und Einheit mit dem Untergange der ihre Ruhe stö­renden Individualität herstellt.  Denn  obschon  sich  die Cha­raktere das in sich selbst Gültige vorsetzen,  so können  sie es tragisch dennoch nur in verletzender Einseitigkeit widersprechend ausführen.  Das wahrhaft Substantielle, das zur Wirklichkeit zu gelangen hat, ist aber nicht der Kampf der Besonderheiten, wie sehr derselbe auch im Begriffe der weltlichen Realität und des menschlichen Handelns seinen wesentlichen Grund findet, sondern die Versöhnung, in welcher sich die beftimmten Zwecke und Individuen ohne Verletzung  und Gegensatz  einklangsvoll bethätigen.

 (Text aus: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Dritter Band; Sämtliche Werke; Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden; Hrsg. Hermann Glockner; Fr. Frommanns Verlag Stuttgart 1954; Bd. 14 S. 530 f)

 

3        Was wird nun durch die Lösung des Konflikts erreicht?

 

1.0.7  Der Held: Handeln und Schuld

 

1        Diskutieren Sie die Frage: Wann kann man davon sprechen, jemand sei an etwas „schuld“? (Gehen Sie aus vom Sprachgebrauch. Denken Sie auch an die juristische Seite der Frage.)

 Text S 12

Denn zum wahrhaft tragischen Handeln ist es notwendig, daß bereits das Princip der individuellen

Freiheit und Selbständigkeit, oder wenigstens die Selbstbestim­mung, für die eigene That und deren Folgen frei aus sich selbst ein­stehn zu wollen, erwacht sey, ...

[...]

Den eigentlichen Beginn der dramatischen Poesie haben wir deshalb bei den Griechen aufzusuchen, bei denen überhaupt das Princip der freien Individualität die Vollendung der klas-sischen Kunstform zum erstenmal möglich macht. Diesem Typus gemäß kann jedoch auch in Betreff auf die Handlung das In­dividuum hier nur insoweit hervortreten, als es die freie Leben­digkeit des substantiellen Gehalts menschlicher Zwecke unmittelbar erfordert. Dasjenige daher, um das es in dem alten Drama, ..., vornehmlich gilt, ist das Allgemeine und Wesentliche des Zwecks, den die Individuen vollbringen; in der Tragödie das sittliche Recht des Bewußtseyns in Ansehung der bestimmten Handlung, die Berechtigung der That an und für sich; ...

[...]

Den allgemeinen Boden für die tragische Handlung bietet, wie im Epos, so auch in der Tragödie der  Weltzustand dar, den ich früher bereits als den heroischen bezeichnet habe. Denn nur in den heroischen Tagen können die allgemeinen sittlichen Mächte, indem sie weder als Gesetze des Staats noch als moralische Gebote und Pflichten für sich fixiert sind, In ursprüng­licher Frische als die Götter auftreten, welche sich entweder In Ihrer eigenen Thätigkeit entgegenstellen, oder als der lebendige Inhalt der freien menschlichen Individualität selber erscheinen.

(Text aus: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Dritter Band; Sämtliche Werke; Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden; Hrsg. Hermann Glockner; Fr. Frommanns Verlag Stuttgart 1954; Bd. 14 S. 541 - 545)

 

Text S 13

Bei allen diesen tragischen Konflikten nun aber müssen wir vornehmlich die falsche Vorstellung von Schu1d oder Unschu1d bei Seite lassen. Die tragischen Heroen sind ebenso schuldig als unschuldig. Gilt die Vorstellung, der Mensch sey schuldig nur in dem Falle, daß ihm eine Wahl offen stand, und er sich mit Willkür zu dem entschloß, was er ausführt, so sind die alten plastischen Figuren unschuldig; Sie handeln aus diesem Charakter, diesem Pathos, weil sie gerade dieser Charakter, die­ses Pathos sind; da ist keine Unentschlossenheit und keine Wahl. Das eben ist die Stärke der großen Charaktere, daß sie nicht wählen, sondern durch und durch von Hause aus das sind, was sie wollen und vollbringen. Sie sind das, was sie  sind und ewig dieß, und das ist ihre Größe...

[...]

Zugleich aber führt ihr kollisionsvolles Pathos sie zu verletzenden schuldvollen Thaten. An diesen nun wollen sie nicht etwa unschuldig seyn. Im Gegentheil; was Sie gethan, wirklich gethan zu haben, ist ihr Ruhm. Solch einem Heros könnte man nichts Schlimmeres nachsagen, als daß er unschuldig gehanbelt habe. Es  ist die Ehre der großen Charaktere, schuldig zu seyn. Sie wollen nicht zum Mitleiden, zur Rührung be wegen...

(Text aus: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Dritter Band; Sämtliche Werke; Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden; Hrsg. Hermann Glockner; Fr. Frommanns Verlag Stuttgart 1954; Bd. 14 S. 5 52 f.)

2        Was ist unter „individueller Freiheit“ zu verstehen?

3        Welche Bedeutung hat diese individuelle Freiheit für den Helden?

4        Kann angesichts einer unausweichlichen Verstrickung noch von „Freiheit“ gesprochen werden?

5        Inwiefern ist es eine Ehre, schuldig zu sein?

6        Belegen Sie anhand der beiden Figuren Ödipus und Antigone, was unter „kollisions-vollem Pathos“ zu verstehen ist.

 

 

1.1   Ödipus: Schuld und Schicksal

 

Zur „Exposition“

 

1        Beschreiben Sie die Lage in Theben bzw. am Hof des Königs Ödipus.

          - Untersuchen Sie genauer: Wie erfährt der Zuschauer von den einzelnen Faktoren, die diese Lage bestimmen.

          - Wie schätzt das Volk seinen Herrscher und dessen Fähigkeiten ein? (V 31 ff)

          - Wie sieht Ödipus sich und seine Rolle? (V 58 ff)

 

Die Chronologie der Abläufe

Ehe das Drama beginnt, ist eigentlich schon wenn nicht alles, so doch das Wichtigste geschehen.

 

Text O 1

Die entscheidenden Geschehnisse, die Tötung des Lajos durch Oidipus, die Hochzeit, die Oidipus mit seiner Mutter hält, liegen dem Beginne des Dramas um Jahre voraus. Das Stück selbst bietet uns die ,,tragische Analysis" (Schiller), durch die der Sinn dieser Taten zerstörend in das Bewußtsein des Oidipus tritt. Im Prolog sehen wir ihn auf der Höhe seiner Herrscherstellung die vom Dichter schön nicht in ihrer Machtfülle, sondern in ihrem tiefen mensch­lichen Gehalte gezeigt wird. Eine Pest verheert The­ben, für deren Schilderung wir uns wohl die furcht­bare Seuche in Athen am Anfang des peloponnesi­schen Krieges (430) bestimmend denken dürfen. Hilfe suchend schreit das Volk durch den Mund eines Prie­sters sein Grauen und seine Not dem König zu, der schon einmal als Retterheiland erschien, als die Sphinx die Stadt bedrängte. Und der König will hel­fen. Mit der Güte eines sorgenden Vaters spricht er zu den Flehenden, ,,arme Kinder" redet er sie an. Schon hat er seinen Schwager Kreon nach Delphi gesandt und schon ist der mit dem Bescheid zur Stelle, die Pest würde erst mit der Befleckung weichen, die auf dem Lande seit der Ermordung des Laios liege.

Nach dem Einzugsliede des Chores thebanischer Bür­ger, der betet und klagt, hebt das Ringen um die Auf­deckung der mit dem Fluche des Gottes beladenen Tat an. Oidipus' der das Rätsel der Sphinx löste, kün­det seinen unbeugsamen Willen an, auch den Mörder des Lajos zu finden. Der Seher Teiresias soll die erste Hilfe bieten. Es ist in dem Aufbau dieses Stückes, dem dramatisch meisterhaftesten der Weltliteratur, der genialste Zug, daß ganz zu Beginn bereits die volle Wahrheit brüsk enthüllt wird. Teiresias will schweigen, aber Oidipus reißt ihm die Wahrheit aus dem Munde, daß er selbst der Mörder ist, der nun in Blutschande dahinlebt. So ungeheuerlich ist die Ent­hüllung, daß sie zunächst in Oidipus und dem Chore jede andere Wirkung erweckt als die Befürchtung, sie könnte wahr sein. Und langsam erst, Schritt vor Schritt, füllt sich das im ersten Teil des Stückes Ge­sagte mit der Gültigkeit des als wahr Erkannten. Zu­nächst ist Oidipus rasch mit dem Schlusse zur Hand, Teiresias sei ein Werkzeug Kreons, der selbst den Thron wolle. Bestürzt und entrüstet verteidigt sich Kreon in langer Szene, und doch rettet ihn nur Io­kastes Dazwischenkunft vor dem schon ausgespro­chenen Urteil.

(Text aus: Albin Lesky: Die griechische Tragödie; Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, Leipzig 1938, S. 105 f.)

 

1        Rekonstruieren Sie das Geschehen, das vor dem Dramenbeginn liegt.

 

2        Beschreiben Sie den Prozess der Klärung der Zusammenhänge und Hintergründe ausführlich. Sie können das Drama gleichsam als eine „focusierende Position“, ein Fenster betrachten, das einen Punkt überdeutlich hervorhebt und von diesem aus in die Geschichte zurück wie in die Zukunft voraus weist. Sie können so Ihre Aufgabe der Rekonstruktion auch graphisch lösen.

  3       Erläutern Sie den Schillerschen Begriff der „tragischen Analysis“.

 Die Orakelsprüche

Text O 2

Wie kein anderes Werk erscheint der König Ödipus in seinem Handlungsgewebe von Tragik durchwirkt. Auf welche Stelle im Schicksal des Helden der Blick sieh auch heftet, ihm begegnet jene Einheit von Rettung und Vernichtung, die ein Grund­zug alles Tragischen ist. Denn nicht Vernichtung ist tragisch, sondern daß Rettung zu Vernichtung wird, nicht im Untergang des Helden vollzieht sieh die Tragik, sondern darin, daß der Mensch auf dem Weg untergeht, den er eingeschlagen hat, um dem Untergang zu entgehen. Diese Grunderfahrung des Helden, die sich mit jedem seiner Schritte bestätigt, weicht erst zuletzt allenfalls einer anderen: daß es der Weg in den Unter­gang ist, an dessen Ende Rettung und Erlösung stehen.

[...]Aber tragisch ist nicht, daß dem Men­schen von der Gottheit Furchtbares zuteil wird, sondern daß es durch des Menschen eigenes Tun geschieht. Nicht weniger wichtig als die stumme göttliche Gewalt über das Geschehen ist darum für die Tragödie jener vom Menschen erbetene Ein­griff des Gottes in sein Tun, der sieh als Orakel in Worte faßt.

Dreimal spricht das Orakel im Lauf der Ö)dipus-Handlung: zu­erst zu Laios, dann zu seinem Sohn und schließlich zu Kreon, der es im Auftrag des Ödipus befragt. Dreimal macht das Orakel göttliches Wissen zu menschlichem, dreimal lenkt es damit das Tun der Menschen und läßt sie selber vollstrecken, was über sie verhängt wurde. An diesen drei Stellen verdichtet sieh wie in Knoten die Tragik im Handlungsgewebe, aus ihnen allein ist sie aufzulösen.

[...]

Indem bei Sophokles das Orakel nicht als Warnung erscheint, verschärft sieh noch seine Tragik. Ohne vorausgehendes Verbot, einen Sohn zu zeugen, trifft Laios das Wissen, von ihm einst getötet zu werden. Im Gegensatz zur Warnung läßt dieses Wissen keine Rettung mehr zu. Eine Handlung, die ihm gemäß wäre, kann es nicht geben, es legt die Ermordung des Sohnes nahe und erweist sie zugleich als vergeblich: es ist Rettung und Vernichtung in einem.

[...]

Das zweite Mal spricht das Orakel zum jungen Ödipus, der von seinen Eltern in die Schluchten des Kithairon ausgesetzt, von einem Hirten gerettet und von Polybos, dem König von Ko­rinth, an Sohnes Statt aufgezogen wurde. Da beim Gelage ein Trunkener behauptet, er sei nicht der Sohn des Polybos, und dieser die Wahrheit verhehlt, zieht Ödipus nach Delphi. Doch statt ihm zu sagen, wer seine Eltern sind, verkündet das Orakel ein Grauenvolles, um dessentwillen es gerade not täte zu wis­sen, wer seine Eltern sind: er müsse Mörder seines Vaters und Gatte seiner Mutter werden. So schlägt die Befragung des Orakels vom Rettenden ins Vernichtende um: sie macht die Unkenntnis der Eltern, statt ihr ein Ende zu bereiten, zur Ur­sache des künftigen furchtbaren Geschehens. [...]

Die Tragik wird verschärft auch dadurch, daß für Ödipus eine stoische Haltung nicht mehr möglich ist. Während Laios vor seinem Mörder floh, flieht Ödipus davor, selber zum Mörder

zu werden. Im Gegensatz zu seinem Vater ist er zu handeln ge­zwungen, denn er muß sein eigenes Handeln verhindern. So beschließt er, nicht nach Korinth zurückzukehren, und schlägt den Weg nach Theben ein. Aber die Flucht vor seinen ver­meintlichen Eltern führt ihn seinem wirklichen Vater entgegen.

[...]

Damit Theben von der Pest erlöst werde, befragt Kreon im Auf­trag des Ödipus das Delphische Orakel, das so zum dritten Male spricht. Seine Antwort: die Forderung, den Mord an Laios zu rächen, sagt im Gegensatz zu den beiden ersten Orakeln nicht mehr Grauenvolles voraus, sondern verspricht Rettung durch Büßung geschehenen Grauens. Den Thebanern, die sieh an Ödipus wenden, weil er sie einst von der Sphinx erlöst hat und so ihr König geworden ist, scheint er von neuem als Retter ge­geben; die Furcht, die Mörder des Laios wollten auch ihn töten, läßt ihn meinen, indem er jene verhafte, rette er sich selbst.

(Text aus: Peter Szondi: Versuch über das Tragische. Insel Verlag, Frankfurt  2 1964; S.65-68; gekürzt)

 

1        Informieren Sie sich genauer: Welche Rolle spielte in Griechenland das „Orakel von Delphi“?

 

2        Die verschiedenen Orakelsprüche, die im Stück wichtig werden:

          - Was - genau! - ist der Inhalt der einzelnen Orakelsprüche? (Beachten Sie auch die Form: Handelt es sich jeweils um eine Warnung, einen Befehl, eine Feststellung, eine Vorhersage...?)

          - Wo tritt das Orakel in das Geschehen des Dramas ein?

          - Wo tritt das Orakel in das Gesamtgeschehen ein? Markieren Sie die entsprechenden Stellen in der „Gesamtübersicht der chronologischen Abläufe“

          - Beschreiben Sie die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Orakelsprüchen.

         

Text O 3

Die nicht mehr zu überbietende Unerbittlichkeit des Schick­sals kommt bereits in der dramaturgischen Grundform des Stückes zum Ausdruck; denn alle schuldhaften Handlungen, die Ödipus durch das Schicksal vorbestimmt waren, hat er, ohne es zu wissen, bereits vor Beginn des Dramas begangen, so daß die gesamte nachfolgende Handlung in nichts anderem besteht als in der schrittweisen Aufdeckung jener zurückliegenden Taten.

[....]

So haben sich beide Weissagungen, die des Laios und die des Ödipus, gerade dadurch erfüllt, daß jeder von beiden die Erfüllung um jeden Preis verhin­dern wollte. Erst an diesem Punkt setzt die Handlung der Tragödie ein.

[...]

Da alles bereits von den beiden Orakelsprüchen vorausgesagt wurde, scheint es weder für ihn [Ödipus] noch für Laios irgend­eine Möglichkeit der Flucht vor ihrem Schicksal gegeben zu haben. Im Gegenteil, gerade durch ihre Fluchtversuche zie­hen sie die Erfüllung des Schicksalsspruchs herbei. Eben dies aber weicht die Härte des unausweichlich Determinierten wieder auf. Orakelsprüche wurden von den Griechen in aller Regel nicht als eindeutige Vorhersagen empfunden, sondern als göttliche Mahnungen, die der Deutung bedurf­ten und die bei entsprechenden Sühnehandlungen erneut gedeutet und ins Positive gewendet werden konnten. Aus heutiger Sicht würden wir dazu neigen, die unkritische Hinnahme des Orakels als eine versäumte Leistung rationa­ler Aufklärung und damit als eine tragische Schuld zu emp­finden. Den Griechen muß aber die Flucht vor dem Götterspruch eher wie ein Akt menschlicher Hybris erschienen sein. Götter mußte man sich nach griechischer Auffassung durch Opfer und demütigen Bittgang geneigt machen. Wer ihnen ein Schnippchen zu schlagen versuchte, rief ihren Zorn auf sich herab. Iokaste, die, um ihren Gatten zu retten, das erste in der Kette der Verbrechen begangen, nämlich den Auftrag zur Tötung des eigenen Sohnes gegeben hat, ist zugleich die einzige, die im Stück die Wirksamkeit jeglicher Weissagung leugnet. Sie, die aus Angst vor dem Götterspruch einwilligte, ihr Kind zu opfern, verfällt jetzt in das entgegengesetzte Extrem einer platten Aufgeklärtheit, die von jedem Griechen als Herausforderung an die Götter empfunden werden mußte. Darum bleibt für sie auch nur der selbstgewählte schmähliche Tod durch einen Strick. Von anderer Art ist die Hybris des Protagonisten. Er vertraut seinem Scharfsinn, mit dem er sogar die Sphinx überlistete, und glaubt, die Wahrheit besser herausfinden zu können als der Seher Teiresias, der den Göttern dient, und als Kreon, der sich Rat vom Delphischen Orakel holte.

(Text aus: Hans Dieter Gelfert: Wie interpretiert man ein Drama? Philipp Reclam jun. ,Stuttgart 1992, S.76-78)

 

1        Wie verhalten sich die jeweils Betroffenen gegenüber dem Orakel?

 

2        Wie stehen die einzelnen Figuren des Dramas zum „Orakel“?

 

Text O 4

Iokaste  - „aufgeklärt“?

[Iokaste] spricht so manches Wort gegen die Orakel (857 u. a.), aber sie ist deshalb nicht gottesleugnende Aufkläre­rin, sehen wir sie doch selbst (911) zu Apollon beten. Ihre Rede leitet der Wunsch, an dem Drohenden vorbei, nicht darauf zuzugehen wie Oidipus, und noch im letzten Augenblicke beschwört sie ihn (io6o), mit dem Fragen einzuhalten. Aber sein Schritt ist nicht zu hemmen.

(Text aus: Albin Lesky: Die griechische Tragödie; Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, Leipzig 1938, S. 110)

 

1               Diskutieren Sie die Meinung des Autors.

-         Formulieren Sie eine knappe These.

-         Nennen Sie Gründe, die für diese These sprechen.

-         Welche Einwände sind denkbar?

         

2        Kreon verkündet das Orakel Apolls

          - Formulieren Sie genau, wie der Orakelspruch lautete.

          - Welche dramaturgische Funktion kommt dem Orakel zu?

 

3        Versuchen Sie eine Deutung: Was repräsentieren die Orakelsprüche? (Beachten Sie besonders die Abläufe des Geschehens und die Versuche, diese Abläufe zu beeinflussen.)

 

Text O 5

Oidipus [gerät] schuldlos ins größte Leid. Apollon trieb ihn zu seinen Taten (1329), ohne daß man einen Grund dafür zu sehen vermöchte. Zu fern, zu groß und zu mächtig sind die Götter, als daß der Mensch sie verstehen und einen Sinn in seinem Leiden erkennen könnte. Das Göttliche steht außerhalb des menschlichen Erkenntnishorizontes, obwohl der göttliche Wille und das göttliche Wissen durch Orakelsprüche und die Offenbarungen des Sehers Teiresias den Menschen offenbart wurden. Doch der Mensch sieht in seinem Denken Alternativen, die es nicht gibt und die durch den Wortlaut der Orakel ausgeschlossen sind; er setzt dem Unbedingten seine Bedingungen entgegen und flüchtet sich, um überhaupt noch leben zu können, in die Hoffnung. So steht Oidipus' Suche nach Laios' Mörder von Anfang an unter diesem für die menschliche Erkenntnisfähigkeit verhängnisvollen Stichwort (121), das um so deutlicher erklingt, als der Chor in seinem Einzugslied die Hoffnung (elpis) in den Rang einer Gottheit erhebt (15 8), die auf derselben Stufe wie die olympischen Götter steht. Hoffnung war es auch, die Laios dazu verleitete, seinen neugeborenen Sohn im Gebirge aussetzen zu lassen, um dadurch dem ihm von Apollon vorausgesagten Tod durch die Hand seines Sohnes zu entgehen; Hoffnung war es, die Oidipus zu dem Glauben brachte, er könne dem ihm von dem delphischen Gott geweissagten Schicksal entgehen, indem er fortan Korinth nicht mehr betrat. Das dritte, an Kreon ergangene Orakel wirkt gleichsam als Katalysator, da es die verhängnisvolle Suche nach Laios' Mörder und damit auch nach Oidipus' Herkunft in Gang setzt, die »tragische Analysis«, um Schiller zu zitieren (Brief an Goethe vom 2.10. 1797). Und wie diese beiden Geschehensabläufe sich schließlich zu einem einzigen verknoten, so enthalten auch die drei Orakel eine einzige schreckliche Wahrheit: Je weiter Oidipus auf Geheiß des dritten Orakels auf der Suche nach Laios' Mörder vorwärtsschreitet, desto näher kommt er der Wahrheit der ersten beiden Orakel, desto tiefer dringt er in die Vergangenheit ein. Und je mehr er sich der vermeintlichen Rettung und dem, was er in seiner Scheinbefangenheit für Wahrheit hält, zu nähern glaubt, desto näher steht er am Abgrund der Selbsterkenntnis.

(Text aus: Bernhard Zimmermann: Die griechische Tragödie. Artemis und Winkler; München, Zürich 2 1992, S.83 f)

 

1        Wie sieht der Autor des Textes die Bedeutung des Orakels?

 

2        Wie beurteilt er die Versuche der Menschen, mit dem Orakel fertig zu werden?

 

Der Prozess der Aufklärung:

 

1        Beschreiben Sie den ersten Versuch des Ödipus, den Mord an Laios aufzuklären. Welche Erkenntnisse bringt die Befragung des Kreon?

 

2        Wie beurteilen Sie die dramaturgische Funktion des Versprechens des Ödipus (145 ff)?

 

3        Das erste Chorlied:

          - An welcher Stelle tritt der Chor erstmals auf?

          - Welche Themen werden im Chorlied angesprochen?

          - Wie werden diese Themen „behandelt“?

          - In welcher Beziehung stehen die Aussagen des Chors zum dramatischen Geschehen?

 

4        Die Auseinandersetzung Ödipus - Teiresias:

          - Unter welchen Umständen begegnen sich beide?

          - Beschreiben Sie genau die schrittweise Eskalation.

          - Welche Motive bestimmen Ödipus und Teiresias?

          - Welche Motive unterstellt (mit welcher Begründung?) Ödipus Teiresias?

          - 350 f. spricht Teiresias bereits aus, was als „Lösung“ betrachtet werden könnte. Wie erreicht es Sophokles, dass, obwohl die Lösung bekannt ist, die dramatische Grundspannung nicht verloren geht, sondern eher noch gesteigert wird?

          - Beschreiben Sie in diesem Zusammenhang insbesondere das Verhalten des Ödipus.

          - Bestimmen Sie die dramaturgische Funktion der Schlussworte des Teiresias. Bedenken Sie dabei vor allem die Wirkung auf die Zuschauer, die ja den Mythos kennen, aber noch nicht das dramatische Geschehen, wie es Sophokles ausarbeitet.

 

5        Die Auseinandersetzung Kreon - Ödipus

          - Beschreiben Sie die „Vorgeschichte“.

          - Beschreiben Sie Schritt für Schritt die Vorwürfe und die Verteidigung. Welche Motive sind jeweils zu vermuten? Welche werden genannt?

          - Welche Rollen spielen Chor und Chorführer in dieser Auseinandersetzung?

          - Beschreiben Sie die Wendung, die das Geschehen mit dem Auftreten Iokastes nimmt. Beachten Sie: Was tragen Iokastes Fragen zur weiteren Klärung bei? (680 ff) Wie deutet Iokaste Orakel und Seherspruch?

          - Iokaste will Ödipus beruhigen. Was erreicht sie in Wirklichkeit? (726 ff)

          - Wie reagiert Ödipus auf die erste Erkenntnis der Wahrheit?

 

6        Ödipus stellt sein Schicksal aus seiner Perspektivik dar. Stellen Sie die wesentlichen Punkte zusammen. (774 ff)

          - Wie sieht Ödipus seinen Orakelspruch? Was hat er in diesem Zusammenhang unternommen?

 

7        Die dramaturgische Funktion des Boten aus Korinth (924)

          - Beschreiben Sie den Auftritt: Welche (dramaturgische) Aufgabe hat der Bote?

          - Verfolgen Sie de nVerlauf des Dialogs. Was wird angesprochen? Wo werden welche Erkenntnisse offenkundig?

          -Wie reagiert Iokaste auf die Erkenntnisse?

          - Wie reagiert Ödipus auf die Wahrheit?

 

Schuld, Schicksal und Tragik

1        Das letzte Chorlied

          - Beschreiben Sie die thematischen Verbindungen zwiwschen Chorlied und Handlung.

          -Welche Folgerungen werden gezogen?

          - Wie wird das Verhalten des Ödipus beurteilt? Wie wird seine gegenwärtige Situation eingeschätzt?

 2        Der Schluss:

          - Wie bewerten Sie die Selbstbestrafung Iokastes?

          - Wie beurteilen Sie das Verhalten des Ödipus am Schluss?

          -Wie sehen Sie die Selbstbestrafung des Ödipus? Beachten Sie: Welche Strafe fordert er für sich? Wie begründet er die einzelnen „Teile“ seiner Strafe?

 

Text O 6

Der Grundzug im Wesen des Oidipus, den er mit anderen sophokleischen Ge­stalten, mit Aias, Antigone und Elektra teilt, ist höchste Aktivität und unbedingte Unbeirrbarkeit des Handelns. Ihn hat das Schicksal umstellt, dichter und dichter sieht er das Netz sich zusammenziehen, aber noch im letzten Augenblick kann er die Kata­strophe vermeiden, wenn er den Schleier, den er selbst gelüftet, wieder über die Dinge fallen läßt. Er könnte es, wenn er nicht Oidipus wäre, der tragische Held, der alles versteht außer dem einen: im schwäch­lichen Kompromiß sich selbst um des äußeren Frie­dens der Existenz willen aufgeben. Durch die Un­erbittlichkeit seines Wollens, auch wo es ihn ge­radeswegs in den Untergang führt, wird er zum Helden einer Tragik, die ihren Gipfel in der Antithese der Verse 1169f. erreicht: vor dem Augenblick der letzten Enthüllung klagt der Hirte: ,,Weh mir, das Furchtbare, jetzt muß ich's sagen." ,,Und ich es hören, doch ich muß es hören", ist die Antwort des Oidipus. Und als er geblendet in der Nacht des Elends ist, da wünscht er wohl, der Kithairon hätte das Kind behalten, aber der andere Gedanke, die furchtbare Wahrheit hätte unter dem Schleier bleiben sollen, der sie so lange verdeckte, ist in seinem Munde undenkbar.

(Text aus: Albin Lesky: Die griechische Tragödie; Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, Leipzig 1938, S. 109 f.)

 

1          Wie beurteilt Lesky das Verhalten des Ödipus?

 

Text O 7

Hier [V. 126 - 135] hebt sich der Aufklärer Ödipus auf die Ebene Apollons und glaubt, ihn als Bündnispartner reklamieren zu dürfen bei dem Versuch, die Wahrheit ans Licht zu bringen. In dieser Haltung kommt die wahrhaft tragische Hybris zum Ausdruck, die den Zorn der Götter hervorruft, aber zugleich dem Helden die Bewunderung der Menschen ein­bringt und zuletzt, nach vollzogener Bestrafung, die Ach­tung der Götter wiedergewinnt. Darum trifft ihn eine ange­messenere und weniger entwürdigende Strafe. Er sticht sich die Augen aus und versetzt sich damit in jene Blindheit, in der er sich bis dahin ahnungslos bewegt hat, als er, verblen­det durch den eigenen Scharfsinn, sich einbildete, er könne sein Schicksal selbst in die Hand nehmen. Hybris und Ate sind auch bei diesem schuldlosesten aller tragischen Helden die Ursache seines Untergangs.

[...]

Wenn der Held sich im Leiden aufbäumt und das Schicksal selbst durch das Übermaß seines Leidens ins Unrecht setzt, nötigt er sogar den Göttern Bewunderung ab und versöhnt sie wieder mit sich. In dieser frühen Phase tragischer Dichtung drückt sich die erste Aufklärung aus, in der sich der Mensch als Individuum noch nicht, wie im 18. Jahrhundert, von den kollektiven Zwängen der Gesell­schaft und der Geschichte emanzipierte, sondern erst einmal von seiner Einbindung in eine vom Schicksal durchwaltete mythische Welt.

Text aus: Hans Dieter Gelfert: Wie interpretiert man ein Drama? Philipp Reclam jun. ,Stuttgart 1992, S.79; S. 81)

 

1          Welches zentrale Merkmal ist nach Meinung des Autors bestimmend für Ödiupus?

            Lässt sich das aus dem Dramentext belegen? Nehmen Sie Stellung.

 

Text O 8

Auch ein anderes müssen wir ausschließen. Laios hat keine Schuld geerbt oder auf sich geladen; es war ihm nicht verboten, einen Sohn zu zeugen; daß er den ge­borenen aussetzt; war sein Vaterrecht. Oedipus hat keine Schuld geerbt; er hat auch keine auf sich geladen. Der Greis, den er am Kreuzweg erschlug, hatte ihn angegriffen. Wenn wir ihn eine ungerechte Beschuldigung gegen Tei­resias und Kreon erheben sehen, so läßt er beide ungekränkt gehen, wahrlich anders handelnd als ein König nach der Anschauung der Athener thun würde, und nur ein Respekt vor dem Seher, den keiner von uns teilen würde, konnte ihn veranlassen, denjenigen nicht wenig­stens in Untersuchungshaft zu setzen, der ihm ein Ver­brechern zugeschoben hatte, von dem er sich frei wußte. Also trifft das entsetzliche Unheil einen moralisch durchaus Unschuldigen und moralisch auch nicht erblich Belasteten. Das ist die bewußte Absicht des Dichters, denn andere, sowohl epische Dichter wie der große Aischylos, hatten auch in diese Geschichte das Gleichgewicht zwischen Schuld und Strafe hineingebracht, das ihr religiöses Empfinden forderte. Wenn Sophokles das anders ge­macht hat, so hat er eben anders empfunden und will, daß wir anders empfinden. Er zeigt uns, wie ein Mensch ohne die mindeste subjektive Schuld objektiv das Ab­scheulichste begehen kann und dann die Folgen tragen muß, innerlich und äußerlich. Gerade weil er nichts dafür kann, sind ihm seine Thaten selbst so entsetzlich. Es hat im Altertum nicht an ernsthaften Leuten gefehlt, die daher so geschlossen haben: wenn Oedipus einen ge­rechten Totschlag begangen hat, wenn er mit einer Frau Kinder gezeugt hat, die er sich durch eine wackere That verdient hatte. so liegt das uns und ihm entsetzlich Scheinende, daß die Betroffenen seine Eltern waren, nur  in der Vorstellung von uns, nicht in der Natur der Dinge; da sehen wir also, daß diese Vorstellungen konventio­nelle Vorurteile sind, die wir abzulegen haben.  Es sind die Verhältnisse,  es ist der Zufall,  der es so fügt und ähnlich alle Tage fügen  kann:  davon muß das sittliche Urteil unabhängig sein oder werden.  Es war also eine thörichte Konzession an  die  konventionellen Vorurteile der Welt, daß Oedipus sich blendete und sich für einen von Gott Verworfenen hielt.  So  würde noch Zenon, der Stifter der stoischen  Schule,  geurteilt haben.  Es  ist nicht erlaubt,  diese kynische Beurteilung für ein leeres Paradoxon anzusehen.  Vatermord und Blutschande sind allerdings Thaten, die ganz unabhängig von der subjektiven Verschuldung  unsühnbare Verbrechen  scheinen;  daher entstehen mit zwingender Notwendigkeit solche sittlichen Probleme, wie diese Geschichte sie bietet.  Es ist hier ganz gleichgillig, wie wir sie lösen; es ist aber unbedingt nötig, daß man erkenne und anerkenne:  Sophokles hat das Problem so gestellt.

[...]

Wenn Oedipus sich  von einem Dämon verfolgt, zur Blendung verführt glaubt, so ist das inhaltlich nur eine Projektion des Triebes in ihm, dem er wider oder ohne Überlegung gefolgt ist, formell redet er so, weil er und Sophokles daran glauben, daß ein Mensch von einem Dämon besessen sein könne, der ihn schädigt.  Insofern kann das unpersönliche ab­strakte Schicksal, das jemand hat, ihm zu einem persönlichen Dämon werden, der ihn hat, beherrscht.  Das ist eine Empfindung, die sich ganz in den Bahnen der natür­lichen Religion hält.  Die Prädestination dagegen oder auch die Vorsehung, wie man namentlich in den Zeiten des Rationalismus für Gott zu sagen liebte, sind Begriffe, die sowohl eine ausgebildete philosophische Spekulation wie ein starkes Verblassen des Glaubens an eine persönlich wirkende Gottheit voraussetzen.  Gab es auch zu beidem Ansätze zu Sophokles' Zeit, so lag es ihm doch gänzlich fern;  ausgebildet ist  beides  erst  durch die stoische Philosophie, aus der es das Christentum einfach entlehnt hat.  Für Sophokles und daher in seinen Dramen wirken die Götter, die liebenden und hassenden, segnenden und verderbenden, himmlischen und höllischen Wesen, die er und sein Volk verehrte, fürchtete, durch Opfer und Gebete sich gnädig zu stimmen suchte.

Aber es ist sehr bemerkenswert, daß in diesem Drama kein Gott direkt handelnd eingreift.  Apollons Sprüche bringen freilich die Handlung in Bewegung, aber er thut nichts und hat nichts gethan als die Wahrheit den Sterblichen mitgeteilt, auch über die Zukunft, die seiner All­wissenheit bekannt ist und die er den Menschen mitteilt, wenn er will, soweit er will, wie er will, in Delphi, durch den Seher, durch Vogelflug und auf viele andere Wege. Darnit bestimmt er die Zukunft nicht, und es thut der menschlichen Willensfreiheit und Verantwortuig keinen Abbruch, daß ein Gott  weiß, was sie wollen und thun werden. Wer die Sphinx, wer die Pest gesandt hat, er­fahren wir nicht.  Die letztere mußte kommen, weil ein ungesühnter Mord und die Anwesenheit des Mörders das Land befleckte. Es war lebendiger, auch im athenischen Rechte anerkannter Glaube, daß eine solche Befleckung solche Folgen hatte, und daß sie nur beseitigt werden konnten, wenn die Ursache dieser ansteckenden Krank­heit entfernt und das Land gereinigt, entsühnt, wir sagen am besten ganz medizinisch, desinfiziert ward. Aus der­selben Anschauung war der Vatermörder und Blutschänder zeitlebens ein Träger solcher Befleckung, zum mindesten in seinem Lande, aber genau besehen überall: Oedipus und Kreon und im Grunde der Chor wissen das sehr wohl.  Die Weisungen für die Entsühnung wußte und offenharte wieder der delphische Apollon am sichersten, der unzählige Male in solchen Nöten von einzelnen und von Staaten befragt worden ist.  All dieses sind also Erscheinungen des wirklichen Lebens, wie es den Dichter umgab; nichts davon schließt das unmittelbare Eingreifen einer göttlichen Person ein. Das ist umso bemerkens­werter, als Sophokles seinem Glauben gemäß sonst mit solchen Zügen in seinen Dramen durchaus nicht sparsam ist. Er hat es hier mit bewußter Absicht ausgeschaltet.

Wir sehen sich das Geschick des Oedipus ganz natür­lich menschlich aus  den Verhältnissen entwickeln.  Wir sehen, was dabei herauskommt.  Oedipus epilogiert ja selbst und giebt dieselbe Lehre wie der Chor.  Das ist also des Dichters Lehre: Mensch, erkenne dich als das was du bist, erkenne deine Ohnmacht und die Nichtigkeit deines Glückes.  Das sagt er, wie Apollon den, der in seinen delphischen Tempel eintritt, mit dem Spruch, Erkenne dich selbst' begrüßt, und insofern kann man sagen, daß dessen Geist in dem Drama weht. Es kann die Tragödie von der Nichtigkeit des Menschenglückes heißen.

Text aus: Griechische Tragödien. übersetzt von Ulrich von Wilamowitz - Moellendorff, Band 1, Weidmannsche Buchhandlung Berlin 1899, S. 10 - 13; gekürzt)

  

1        Vatermord und Inzest sind die beiden großen Verbrechen, deren sich Ödipus schuldig fühlt.

          - Stellen Sie die Stellen zusammen, an denen von dieser Schuld die Rede ist.

          - Wie beurteilen die übrigen Figuren (Chorführer, Kreon) die Situation?

          - Wie würde man aus heutiger Sicht urteilen?

          - Wie kommen die Griechen zu einem solchen Verständnis von „Schuld“?

 

2        Der Autor des Textes sieht in Ödipus ein Beispiel für menschliche Ohnmacht. Zeichnen Sie die Argumentation des Textes nach.

          Diskutieren Sie das Konzept.

  

3        Sie haben schon über die Bedeutung des Mythos gesprochen: Welche „Grunderfahrung“ wird im „Ödipus“ thematisiert? Wie stellt sich in diesem Zusammenhang die Schuld-Frage?

4        Man spricht gelegentlich von „Schicksalstragödie“. Was meint dieser Begriff? Könnte man ihn auf den „Ödipus“ anwenden?

Tragik des Einzelnen

Für des Sophokles Spiel von dem großen, stolzen Menschen, den der Wille der Gottheit zerbricht, war das alte Motiv des Erbfluches nicht mehr zu brauchen. Wir sehen es bis auf Geringfügiges ... zur Seite geschoben, aber auch das Orakel an Laios erscheint lediglich als Verheißung, sein Sohn werde ihn töten (711), nicht aber als bindendes Verbot der Zeugung.

So ist alles auf Oidipus gestellt, er tritt als einzelner der Schickung gegenüber, die über ihn verhängt ist seit seiner Geburt. Sie reißt ihn aus allen Bindungen, in denen er lebte, stürzt ihn in die Einsamkeit des tragisch Ge­schlagenen, in die Finsternis seiner Blindheit und läßt ihn (las Werk der Vernichtung in grauenhafter Ironie bis zum letzten Schritt durch ihn selbst vollziehen. Denn dieser Oidipus ist ein sein Schicksal Vollziehender, keines­wegs bloß Erleidender. Das Drama konnte kaum ärger mißdeutet werden, als wenn man von Resignationstragik gesprochen hat. Auch mit dem Stichwort ,,Schicksalstragödie" hat man sich lange den Zugang zur griechischen Tragödie überhaupt verbaut. Natürlich ist das Schicksal, das die Götter bei Sophokles verfügen, ungeheuer und übergewaltig. Aber der Mensch steht ihm nicht in der Geste resignierenden Empfangens gegenüber. In Oidipus erleben wir die bis zum äußersten gesteigerte Aktivität des tragischen Menschen, der auf sein Schicksal zuschreitet, mit ihm ringt und es untergehend dadurch überwindet, daß er es in seinen Willen hineinnimmt. Großartig der Gegensatz zwischen Oidipus, der seinem Ziele zustürmt und den letzten Schleier von dem Furchtbaren reißt (1170), und jener Iokaste, die ihn bis zum Schlusse daran hindern will. Sie ist nicht die Frivole, als die man sie öfter mißverstanden hat, aber ihre Lebensnorm ist das eikê zên (979), das letzten Entscheidungen ausweicht.

Reinhardt hat uns den tragischen Konflikt des Stückes als den zwischen Schein und Wahrheit gedeutet und gezeigt, wie in dem, was man tragische Ironie nennt, die furchtbare Spannung unheimlich aufleuchtet. Der Durch­bruch zum Sein aus dem Schein erfolgt jedoch durch Oidipus selbst, und wenn sich sein Eifer auch zunächst verrennt, so findet er doch sein Ziel mit jener tödlichen Konsequenz, mit der er die Wirklichkeit, ist sie gefunden, bis zum Letzten auf sich nimmt. Wir können sagen. daß all dieses Handeln und Kämpfen des Oidipus das Stück überhaupt erst zum Drama macht. Aber damit ist nur Äußerliches berührt; viel wesentlicher ist, daß der Mensch, der so auf sein Schicksal zuschreitet, untergehend den Wert des Mensch­lichen bewahrt und seine Würde in der tiefsten Tiefe des Elends bestätigt.

(Text aus: Albin Lesky: Die tragische Dichtung der Hellenen. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1956, S. 123.)

 

1        Welche Argumente bringt der Text gegen die Auffassung von einer „Schicksalstragödie“ vor?

          Diskutieren Sie das Problem erneut.

 

2        Wie stellt sich nun - im Anschluss an Reinhardt - für den Autor das Verhalten des Ödipus dar?

 

3        Formulieren sie in knappen Sätzen das Konzept von Schicksal, Freiheit und menschlichem Handeln, das die Grundlage der Tragödie bildet.

  

1.2     Antigone: Tragischer Konflikt

 

Siehe hierzu die Unterrichtsreihe in: Friedel Schardt: Texttheorie und ästhetischer Text - Modelle für den Unterricht; Schwann Verlag Düsseldorf 1977 (oder: Friedel Schardt: Sophokles: Antigone; in: Unterrichts-Konzepte Deutsch – Literatur; Hrsg. Friedel Schardt; Stark – Verlag Freising 1999; Zur Interpretation: F. Sch.: Sophokles: Antigone; Interpretationshilfe. Stark Verlag, Freising 2000)