Romandidaktik

 

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Thesen zu einer oberstufenspezifischen Romandidaktik[1]

 

„Doch es gibt Situationen, in denen man, bis zur Banalität grundsätzlich, das alte Wahre neu sagen muss, und vielleicht besteht die Novität meiner Thesen darin, heute noch und erst recht solche Positionen zu halten.“ (Gerhard Kaiser)[2]

 

1. These:          

 Aufgabe der Didaktik und insbesondere der Literatur- und damit auch der Romandidaktik ist nicht Deskription, sondern Projektion.

Einer pädagogisch verantwortlichen Didaktik kann es nicht darum gehen, einen IST - Zustand zu beschreiben, sondern sie muss ein SOLL projektieren. Selbstverständlich wird es dann unumgänglich, das IST zu beschreiben, wenn die Frage beantwortet werden soll, wie das SOLL zu realisieren sei. Deshalb ist es im Hinblick auf die Romandidaktik wichtig, die „gesellschaftliche Lesewirklichkeit“ in den Blick zu nehmen. Allerdings: Ausgangspunkt der Litera­turdidaktik kann das „Gesamtfeld Roman“, wie es Wangerin fordert, nicht sein.[3]  Mit anderen Worten: Ausgangspunkt einer pädagogisch verantwortlichen Romandidaktik sollte eine (übergeordnete) pädagogische Zielkonzeption sein (Was habe ich mit meinen Schülern/Schülerinnen vor?). Erst dann sollte gefragt werden: Mit welcher Ausgangslage ist zu rechnen? Eine Umkehrung läuft immer Gefahr, sich mit der normativen Kraft des Faktischen zu schnell abzufinden.

 

2. These:          

Es kann nicht Hauptaufgabe eines verantwortlichen Literaturunter­richts auf der Sekundarstufe II sein, „Schüler/-innen zu Lesern zu machen“.[4]

So plausibel auf den ersten Blick das Ziel auch scheinen mag, Schüler zu Lesern zu .‚machen“, es ergibt für sich noch keinen didaktisch legitimen Sinn. Das Lesen stellt keinen Wert für sich dar. Es kann vielmehr - darauf verweist schon Gottfried Keller im „Grünen Heinrich“[5] - eine nicht zu unterschätzende Gefahr darstellen, wenn es „falsch“ betrieben wird.

Ohne Zweifel wird man Spinner zustimmen und in Literatur ein wirkungs­volles Medium sehen, „das den Heranwachsenden in ihrer intellektuellen und affektiven Entwicklung eine Hilfe sein kann[6]. Soll das aber der Fall sein, so müssen verschiedene Bedingungen erfüllt sein:

Der Gegenstand selbst muss geeignet sein. Er muss genügend provozieren­de Dynamik enthalten, um eine Auseinandersetzung in Gang zu bringen.

Seitens des Schülers/der Schülerin bedeutet das andererseits: Er oder sie muss hinreichend kompetent sein, um den Text angemessen zu verstehen und seine Herausforderung erkennen und annehmen zu können.

Für den Unterricht bedeutet das: Beide, Text und Schüler, sind miteinander in Berührung zu bringen. (Hier kann der Schüler dann einmal „abgeholt“ wer­den.) Dabei ist darauf zu achten, dass beide Seiten zu ihrem „Recht“ kommen, dass also die Auslegungsinteressen des Schülers den Text nicht völlig verbie­gen, dass aber andererseits der Text auch die Schüler nicht völlig „besetzt“ und ihre Interessen überlagert.

3. These:          

Pädagogische Intentionen haben Vorrang. Dennoch aber ist eine präzise Textarbeit sowie der Erwerb fachwissenschaftlich orien­tierter Methoden und Kenntnisse unumgänglich.

 

Wissenschaftspropädeutische Aspekte stellen für die Sekundarstufe II wich­tige Elemente bei der Zielkonzeption zur Verfügung, diese allerdings dürfen sich nicht verselbstständigen. Sie sind vielmehr immer pädagogischen Inten­tionen unterzuordnen.

Die von den Bezugswissenschaften bereitgestellten Methoden, Begriffe usw. können nur dann sinnvoll im Unterricht erarbeitet bzw. eingesetzt wer­den, wenn sie im konkreten Fall im Dienste des Verstehensprozesses stehen.

Gerade wenn „im Roman Erkenntnis ästhetisch vermittelt“ wird[7], muss diese ästhetische Dimension auch wahrgenommen werden. Dazu bedarf es eines bestimmten Sensoriums, das zu entwickeln ist.

Bedeutungsnuancen werden oft nur greifbar über eine präzise Analyse. Dabei kann es sehr wohl notwendig werden, z. B. das Verhältnis von Erzähl­zeit zu erzählter Zeit zu bestimmen bzw. zu beschreiben, Strukturen herauszu­arbeiten, die Erzählerposition exakt nachzuvollziehen usw. Insofern leistet das von Klaus Gerth[8] vorgestellte Konzept einer planvollen, zielstrebigen Ana­lysearbeit am Text eben doch sehr gute Dienste (zumindest in der Sekundar­stufe II).

 

4. These:       

Ziel eines verantwortlichen Literaturunterrichts und damit auch der Romanbehandlung auf der Sekundarstufe II ist nicht Erzie­hung zur Leselust“, sondern kritische Auseinandersetzung mit Welt und Gesellschaft sowie kritische Reflexion des eigenen Standortes, soweit dies schon möglich ist, mit der Maßgabe, ein tragfähiges Lebenskonzept zu entwickeln.

Natürlich kann diese Zielsetzung nicht vom Literaturunterricht im Alleingang realisiert werden. Sie ist vielmehr Aufgabe aller Fächer. Der Deutschunterricht hat allerdings die besondere Chance, vermittels seiner „Gegenstände“ und hier insbesondere durch die Behandlung bestimmter literarischer Werke nicht zuletzt aus dem Bereich Roman, im besonderen Maße an der Realisierung des Zielkomplexes mitzuarbeiten.

 

5. These:          

Romane sind in besonderer Weise „welthaltig“ und bieten so geeig­nete Modelle für eine Auseinandersetzung mit Welt und Weltan­schauungen.

Genauso, wie man nicht von dem Roman schlechthin sprechen kann, wäre es falsch, von dem besonders „typischen Roman“ zu sprechen, vielmehr bringt jede Zeit und jede Epoche ein Werk oder mehre­re Werke hervor, die gerade für sie besonders charakteristisch sind. Geht man davon aus, dass der Roman ein in besonderer Weise und im besonderen Maße „welthaltiges“ ästhetisches Gebilde darstellt, so ist es geradezu selbstverständ­lich, dass jede Gesellschaft, jede Epoche eigene, für sie charakteristische Produkte hervorbringt.

„Auseinandersetzung mit Welt“ bedeutet nicht zuletzt auch „Gesellschafts­kritik.“ Diese aber, wie „die Begründung von Zusammenhängen durch Dar­stellung, Öffnung einer eindimensionalen Gegenwart hin zu Vergangenheit und Zukunft leistet wohl immer noch am besten der Roman.“[9] Hier wird ein­deutig Stellung bezogen zugunsten einer rationalen Durchdringung, wobei natürlich bewusst gehalten wird, dass der ästhetische Gegenstand in der Ratio­nalität nicht restlos aufgeht. Beachtenswert erscheint in diesem Zusammen­hang Geißlers Sicht: Er sieht in der „Vielschichtigkeit und (dem) Facettenreichtum des Romans ... in gewisser Weise ein Analogon zur menschlichen Gesellschaft“[10]. So wird der Leser des Romans angeleitet, sich nicht nur mit der im Roman erzeugten Welt auseinander zu setzen, sondern auch seine eige­ne Gegenwart einer kritischen Analyse zu unterziehen, wobei gerade das „Ler­nen am Modell“[11] ein risikofreies Experimentieren ermöglicht. Darüber hinaus bietet gerade der Roman in besonderer Weise das, was G. Kaiser von der Dich­tung überhaupt erwartet, die uns als „Raum-Zeit-Maschine ... in die Tiefe der Geschichte und die Weite der Welt führt, die uns mit den Augen fremder Zei­ten und Kulturen sehen lässt ...„ So „können wir durch Dichtung an fast allem teilnehmen, was von Menschen je gedacht, gefühlt, imaginiert geredet und getan worden ist . [12]

 

 

6. These:          

Wenn Texte „in Gebrauch genommen“ werden sollen, dann sollte das nur in einem hermeneutischen Prozess geschehen, der den Tex­ten gerecht wird und insbesondere ihre historische Dimension be­rücksichtigt.

 

Als wichtiges Ziel der Arbeit mit Romanen auf der Sekundarstufe II kann gel­ten, „dass die Leser die Texte von ihren eigenen Erfahrungen und Bedürfnis­sen her in Gebrauch nehmen können“.[13] Soll dieses „In Gebrauch Nehmen“ in einem verantwortlichen hermeneutischen Prozess geschehen, so wird es not­wendig, sowohl die historische Dimension des in Frage stehenden Werkes als auch die historische Eingebundenheit des Verstehenden angemessen in Rech­nung zu stellen.

Gerade in diesem Zusammenhang vermögen Romane einiges zu leisten, zumal bei ihnen die Gesellschaft, in der, auf die hin oder gegen die sie ent­standen sind, in je spezifischer Weise präsent ist, sei es, dass sie mimetisch abgebildet und/oder überhöht, sei es, dass sie karikiert und/oder in Frage gestellt wird. Wie dem auch sei: In jedem Fall ist ein vertieftes Verstehen des komplexen Gebildes Roman nur dann zu erreichen, wenn die angesprochene historische Dimension nicht übersehen und der Roman auf die Gegenwart des Rezipienten verkürzt wird. Freilich: Der Roman ist mehr als nur historisches Dokument und Verstehen mehr als nur Erkennen von historischen Bezügen.[14]

Das „In Gebrauch Nehmen“ im Sinne eines angemessenen Verstehens muss auch der Seite des Verstehenden Rechnung tragen, d. h. die unmittelbare Textwirkung, das „naive“ Verstehen oder Nichtverstehen, Sympathie und Antipa­thie und dergleichen mehr müssen artikuliert bzw. dokumentiert werden, um als wesentliche Faktoren des hermeneutischen Prozesses reflektiert und in den Gesamtprozess angemessen integriert werden zu können.[15]

Wenn in den hier vorgelegten Vorschlägen und Konzepten gelegentlich im Zusam­menhang mit Eröffnungsgesprächen von „erwartbaren Wirkungen“ die Rede ist, dann hat das wenig mit Lernzielformalismus zu tun. Vielmehr handelt es sich dabei um Erfahrungsgrößen, die durch jeweils neue Erfahrungen verän­dert bzw. revidiert werden können.

Wohl werden Schüler „eigene Erfahrung und Romanwelt aufeinander beziehen“[16], doch sollte dies artikuliert und so dokumentiert werden, dass es intersubjektiv nachvollziehbar und einer kritischen Reflexion zugänglich bleibt.

Beim Rückgriff auf Literatur im angesprochenen Sinn „begeben wir uns in einen Traditionszusammenhang. Wir stellen eine Beziehung her zwischen unseren eigenen Erfahrungen und denen, die in der Literatur ausgedrückt sind…“[17] Genau das aber wird nur möglich, wenn der Text in seinem Zusam­menhang ernst genommen, als das historisch andere akzeptiert und respektiert wird.

 

7. These:  

Es geht nicht an, die Romandidaktik in eine Didaktik des Kinder -und Jugendbuchs umzufunktionieren.

So wichtig und verdienstvoll die Arbeiten Dahrendorfs für den Bereich der Jugendbuchdidaktik auch sind, so können sie doch leicht zu Missverständnis­sen führen, wenn sie auf den Gesamtbereich der Romandidaktik ausgedehnt werden und von ihnen her auch die Oberstufendidaktik entwickelt wird. Allzu schnell wird so das Vorfindliche zur „Norm“, das IST zur kaum noch zu ver­ändernden Größe und alles, was darüber hinaus verweist, als „Verkopfung“, „Verwissenschaftlichung“ usw. diskriminiert. Die Verkürzung betrifft ja letzt­lich nicht nur die ins Auge zu fassenden Gegenstände (eben reduziert auf Werke der Kinder- und Jugendliteratur), sondern auch die jungen Menschen selbst, die als künftige Leser in Frage kommen.

Gerade wenn der Roman für junge Leser „auch Modelle für das eigene Ver­halten“ liefert und so „zu einem Teil der Auseinandersetzung der jungen Leser mit ihrer Umwelt“[18] wird, darf dieses Feld nicht vorab beschränkt werden. Dann ist nach Romanen zu fragen, die Perspektiven eröffnen, Modelle zur Diskussion oder auch in Frage stellen. Es wird gerade dann die Berücksichti­gung auch von Werken notwendig, die in historisch „anderen“, dem Schüler zunächst vielleicht „fremden“ Feldern stehen und so zu einer Relativierung (und das heißt gleichzeitig auch: genaueren Bestimmung!) des eigenen Standortes beitragen können.

 

8. These:          

Die Romandidaktik für die gymnasiale Oberstufe muss sich nicht primär an den Leseinteressen der Schüler/der Schülerinnen orien­tieren.

So lange nicht geklärt ist (Frage: Ist es überhaupt zu klären?), wie diese Interessen zustande kommen, ist ihnen gegenüber Vorsicht angebracht.

Wangerin begrüßt mit Recht die Jugendromane, die „statt von der Wirklich­keit abzulenken, provozieren, ohne dabei fertige und endgültige Antworten zu geben“[19]. Bleibt zu fragen, warum er nicht zu Werken greift, die das schon seit 50, 100 und mehr Jahren tun. Die Frage beantwortet sich indirekt, wenn Wangerin eine Didaktik verwirft, die sich am Bildungs- und Entwicklungsro­man orientiert, welcher seiner Ansicht nach „von Schülern vor dem 11. Schul­jahr kaum gelesen werden kann.“[20] Die Auswahl der Romane, die in der gym­nasialen Oberstufe gelesen werden sollen, darf m. E. nicht schwerpunktmäßig abhängig gemacht werden von den „jeweiligen Leseinteressen“ der Schüler. Eine „Abholdidaktik“ ist nicht überzeugend, wenn sie nicht über das Abholen deutlich hinausführt. „Hinausführen“ bedeutet: Der jeweilige IST-Stand muss sowohl unter ästhetischen wie auch unter formalen und sachlich-problemori­entierten Gesichtspunkten deutlich überschritten werden. In welche Richtung er zu überschreiten ist, hat eine auf den Schüler und dessen zukünftigen Sta­tus als kritischer Erwachsener orientierte Pädagogik und Didaktik zu konzi­pieren. Literatur, insbesondere der Roman, vermag dabei zu unterstützen, sofern wir ihr ihr Recht belassen und nicht vorschnell eine „Aneignung“ ver­suchen, die nichts anderes ist als Überlagerung. „Erst die einlässliche Erpro­bung fremder Lebensweisen und Lebensperspektiven durch Mitvollzug in den Werken führt zur Ich-Erweiterung, ... zur Vertiefung der Fähigkeit, Fremdes wahrzunehmen und anzueignen.“[21]

 

9. These:          

Die Romandidaktik muss für die Sekundarstufe II eine gewisse Selbstständigkeit reklamieren.

Sie muss den Kinder- und Jugendbuchbereich deutlich überschreiten.

Sie muss sich hinsichtlich der Lese- und Verstehenskompetenz in Richtung der Bezugswissenschaften orientieren. Hier ist Wangerin entschieden zu widersprechen, der eine solche Orientierung ablehnt bzw. als Gefahr betrach­tet. Eine solche Orientierung muss keineswegs nur „einseitig auf objektives Wissen als letzten Zweck“[22] ausgerichtet sein. Vielmehr stellt ein solches Wis­sen die Basis einer angemessenen Verstehenskompetenz dar.

Hier schließt sich der Kreis: Je anspruchsvoller das (pädagogische) Ziel gesetzt ist, umso anspruchsvoller wird das „Mittel“ (hier also: der auszu­wählende Roman) sein, mit dem das Ziel erreicht werden soll. Je anspruchs­voller aber der Roman ist, um so mehr „Wissen“ und „fachwissenschaftlich orientiertes Können“ sind erforderlich, soll der Roman in einem angemessenen hermeneutischen Prozess „verstanden“ werden und so zur Erreichung des Ziels beitragen.

 

 

Zur Unterrichtsmethodik

 

Die Konzepte, die ich hier vorstellen werde, gehen durchgehend davon aus, dass die Schüler den jeweiligen Text gelesen haben, ehe die Besprechung im Unterricht einsetzt. Gerade wenn man die Schüler ernst nimmt, wenn man möchte, dass sie ihre Probleme zur Sprache bringen, dass sie den Roman „in Gebrauch nehmen“, ist es unabdingbar, zumindest die Erstlektüre ungesteuert (d. h. also: ohne Leitfragen und „Leseaufträge“) laufen zu lassen. Allerdings: Es hat sich immer wieder als besonders fruchtbar erwiesen, die Schüler dazu anzuhalten, ein „Lesetagebuch“ zu führen. Dort sollten sie während der Lektüre nach jedem gelesenen Abschnitt eine knappe Inhaltszu­sammenfassung festhalten und vor allem ihre „Leseeindrücke“ fixieren, d. h. sie sollten Sympathien und Antipathien, Spannung und Langeweile, Bewer­tung und weitere Erwartung, Zustimmung und Ablehnung usw. so festhalten, dass sie sowohl im eröffnenden Unterrichtsgespräch als auch bei der weiteren Behandlung immer wieder darauf zurückgreifen können.


 

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Fragen der Motivation

 

Und wenn die Schüler den Roman nicht gelesen haben?

Zunächst: Wir sollten uns als Deutschlehrer abgewöhnen zu erwarten, dass alle alles gelesen haben. Wenn Schüler einen Roman nicht gelesen haben, soll­ten wir das zur Kenntnis nehmen, die Schüler auf die Konsequenzen hinwei­sen und dennoch mit der Behandlung beginnen. Nicht jeder, der in der elften Jahrgangsstufe am Gymnasium ist, muss zum Abitur geführt werden, und nicht jeder, der zum Abitur geführt wird, muss alle Romane, die im Deutsch­unterricht behandelt werden, auch gelesen haben. (Für den Mathematiker, den Physiker sind solche Sätze, bezogen auf ihre Fächer, selbstverständlich.) Die Skala, die bei der Bewertung von Schülerleistungen herangezogen werden kann, reicht auch für den Deutschunterricht von 1 bis 6 bzw. von 0 bis 15 Punkte. Es muss den Schülern der Sekundarstufe II mehr und mehr klar wer­den, dass in der Schule nicht alles nur „just for fun“ geschieht, dass der alte Spruch „non scholae, sed vitae discimus“ eben auch heißt: Der „Ernst des Lebens“ findet mehr und mehr Eingang in die schulische Arbeit.

Auf keinen Fall sollte man das Gesamtniveau von der Leistungsbereitschaft (oder auch: -fähigkeit!) des schwächeren Teils eines Kurses abhängig machen. Nur weil z. B. ein Drittel eines Kurses einen Roman nicht gelesen hat bzw. nicht bereit ist, ihn zu lesen, haben wir nicht das Recht, ihn den beiden andern Dritteln vorzuenthalten! M. a. W.: Bei der Diskussion um das, was man den Schülern an Lesestoff „zumuten“ kann, muss auch mitbedacht werden, was man willigen und fähigen Schülern vorenthalten darf und was man ihnen anbieten sollte..

Wenn Fragen der Motivation immer wieder mit zu bedenken sind, so bedeu­tet das auch und vor allem: Fragen einer auch sachlich vertretbaren Motivati­on. Der „Genuss des Draufgekommenseins“ (Günter Kunert) erfordert, um als solcher wahrgenommen zu werden, ein hohes Maß an Rationalität. Wenn wir diese Form von Lustempfindung auch nicht bei allen Schülern voraussetzen können, sollte sie doch als Möglichkeit und Ziel ins Auge gefasst werden. Im Übrigen zeigt die Erfahrung von 35 Jahren der Arbeit in der gym­nasialen Oberstufe: Je höher die Anforderungen (im Rahmen vernünftiger Grenzen) gesetzt waren, um so eher waren die Schüler auch bereit, mit ent­sprechendem Einsatz zu arbeiten.

Das war allerdings u. a. an zwei Bedingungen geknüpft: Die Anforderungen betrafen nicht nur die Schüler, sondern auch den Lehrer, und zum andern wur­den den Anforderungen angemessene Noten zugeordnet. Das bedeutete z. B., dass die Leistungsanforderungen bereits vor der Leistungsbewertung (Kursar­beit usw.) festgelegt und Punktwerten zugeordnet wurden. Die Benotung wurde dann ohne Rücksicht auf irgendeine wie auch immer geartete „Nor­malverteilung“ vorgenommen.

 

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Fragen der Methodik

 

Die Schüler sollen mehr und mehr zu methodischer Selbstständigkeit geführt werden. Das bedeutet, dass Arbeitsverfahren favorisiert werden, die den Schülern einiges abfordern, ihnen eine Fülle an Verantwortung zugestehen. Dabei wird man mehr und mehr auf projektartige Verfahren zurückgreifen oder doch, so weit dies möglich ist, verschiedene Formen der Gruppenarbeit einsetzen. Dabei sei schon hier festgehalten: Das unterrichtliche Gespräch soll auf keinen Fall diskriminiert werden. Es wird immer wieder notwendig wer­den, Erarbeitungs- und Gesprächsphasen vorzusehen, in denen der Lehrer/die Lehrerin (als der oder die fachlich Kompetente) dominiert. Es versteht sich von selbst, dass dies nicht dann der Fall sein darf, wenn es um Beurteilung oder Bewertung, um Stellungnahme oder Diskussion geht.

 

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Verstehen im Zentrum der Bemühungen

Der Schwerpunkt des Arbeitens wird in der Regel im Bereich des Verstehens liegen. Dabei ist „verstehen“ noch weitgehend im Gadamerschen Sinn (vergl. hierzu: Stichwort Hermeneutik) gemeint als Resultat eines hermeneutischen Prozesses, an dem Text und Leser gleichermaßen beteiligt sind. Voraussetzung eines textangemessenen Verste­hens ist dabei eine sachgerechte Textanalyse. Eine zweite, nicht minder wich­tige Voraussetzung aber ist in der Forderung zu sehen, der Text solle den Leser „etwas angehen“, solle ihn betreffen, ihn berühren, wobei es gelegentlich sehr wohl sein kann, dass ein Text einen Leser „angeht“, ohne dass der Leser dies zunächst empfindet. (Hier greift dann das, was wir als pädagogisch zu verant­wortende Entscheidung des Lehrers verstehen.) In unserem konkreten Fall soll das Gadamersche Verstehen in einer bestimmten Richtung weiter profiliert werden. Deshalb sei hier der Begriff des „existentiellen Transfer“, wie ihn H. Munding geprägt hat, eingeführt[23]: ine Ansichten miDer Altphilologe H. Munding schlägt als didaktisch relevante und vertret­bare Möglichkeit, mit der historischen Distanz zwischen Text und Verstehendem fertig zu werden, einen „existentiellen Transfer“ vor, ausgehend von der Überlegung, dass bestimmte Vorstellungen der Antike „auch für den heutigen Menschen noch wichtig werden können. Dieser Fall (also genau genommen das Wichtig-Werden, nicht das Wichtig-Sein) wird allerdings „ erst bei einer bestimmten Art von interpretatorischer Bemühung eintreten.“ Dabei muss es vor allem darum gehen, „die antiken Vorstellungen in unsere eigene Wirklichkeit gewissermaßen „umzudenken“. Munding dokumentiert seine Ansichten mit zwei Beispielen, deren Analyse zeigt, dass es ihm a) um eine Rekonstruktion der originären Textbotschaft und b) um einen Strukturvergleich, d. h. um die Suche nach homologen Entsprechungen im gegenwärtigen Horizont geht. Wesentlich scheint mir dabei, dass hier auf der Ebene der die Textinhalte wie die Wirklichkeit organisierenden Strukturen gearbeitet wird. (Munding spricht zwar von „Textinhalt“, er verwendet den Begriff aber in Opposition zu „Textform“. Gemeint sind also die Strukturen, die „Textinhalte“ organisieren.) Damit soll begründet werden, dass gerade mit Texten, in denen die strukturelle Homologie nicht oder nicht deutlich zutage tritt, dennoch eine angemes­sene Auseinandersetzung stattfinden kann.[24]

 

 

 

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Produktionsorientierte Verfahren

 

In der neueren Diskussion um geeignete Unterrichts- (und dann auch: Erar­beitungs-) methoden nehmen die so genannten „produktionsorientierten Ver­fahren“ einen immer breiteren Raum ein. Natürlich lassen sie sich auch bei unseren Vorhaben immer wieder einsetzen, wenn es darum geht, mit dem existentiellen Transfer ernst zu machen, das heißt das „Verstandene“ in die eigene Existenz hinein zu nehmen, es vom eigenen Erfahrungshorizont aus zu bewer­ten oder aber auch den eigenen Erfahrungshorizont vom neu Erfahrenen her neu zu bewerten. Dabei sollten diese Verfahren allerdings nicht so stark überbewertet werden, dass man ihnen unterstellt, sie nähmen die Schüler als Leser in besonderer Weise ernst.[25] Es darf z. B. mit Fug und Recht bezweifelt werden, ob Antwortbriefe an den jungen Werther eine zulässige Methode darstellen, weil sie dem monologisierenden Charakter des Briefromans geradezu zuwiderlaufen. Man wird Fritzsche nicht ohne weiteres widersprechen können, wenn er - freilich in einem „zwanglosen“ Kamingespräch - sagt: „Die ästhetische Haltung ist eine der Betrachtung statt des Eingriffs, also Sich - ansprechen – lassen…“[26]

 

[1] Es sei nochmals ausdrücklich darauf hingewiesen, dass hier von der Arbeit auf der Sekundarstufe II die Rede ist. Zwar soll keineswegs ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen Mittel- und Studienstufe konstruiert werden, doch ist m. E. spätestens mit Beginn der Sek. II die Phase des „Kinder- und Jugendbuchs“ vorbei, was nicht bedeu­ten soll, dass gelegentlich das eine oder andere Buch, das sich mit gerade aktuellen Pro­blemen beschäftigt, im Unterricht angesprochen werden kann. Die Fachdidaktik, soweit sie sich überhaupt mit dem Roman beschäftigt, ist drauf und dran, im „Rausch der Jugendbuchromantik“ die Romane nicht nur der literarischen Tradition, sondern auch der literarischen Gegenwart aus dem Blick zu verlieren. (Man vergleiche in diesem Zusammenhang etwa die Geschichte bzw. Entwicklung entsprechender Artikel in den einschlägigen Fachlexika bzw. Handbüchern.)

 

[2] Kaiser, Gerhard: Wozu noch Literatur? Uber Dichtung und Leben; C. H. Beck‘sche Ver­lagsbuchhandlung, München 1996, 5. 10

 

[3] Wangerin, Wolfgang: Romane im Unterricht; in: Lange, Günter; Neumann, Karl; Ziesenis, Werner (Hrsg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts, Bd. 2, Baltmannsweiler: Schneider Verlag, Hohengehren; 5. Aufl. 1994, S. 578. Auch Wangenn kommt in seiner weiteren Argumentation nicht umhin, ästhetische wie inhaltliche Qualitätskriterien anzuwenden, wenn er sich auf Autoren wie Wieland, Moritz oder auch Schopenhauer beruft und die „gesellschaftliche Lesewirklichkeit“ mit einem Verweis auf die „Ritter-, Räuber- und Schauerromane“ (S. 579 f.) übergeht.

[4] Wangerin, Wolfgang, a.a.O., S. 587

 

[5] Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich (Erste Fassung). Hrsg. v. C. Heselhaus, DTV, München 1978, S.132 ff.

[6] Spinner, Elisabeth und Caspar: Kinder- und Jugendliteratur; in: Bauman, Jürgen/Hoppe,

                               Ottfried (Hrsg.): Handbuch für Deutschlehrer; Stuttgart 1984 5. 366

[7] Wangerin, Wolfgang, a.a.O., 5. 584

[8] Gerth, Klaus: Elemente des Erzählens. Schroedel Schulbuchverlag, Hannover 1983; zur Kritik an Gerth s. Wangerin, Wolfgang, a.a.O., 5. 588

[9] Geißler, Rolf: Prolegomena zu einer Theorie der Literaturdidaktik. Schroedel Schul­buchverlag, Hannover 1970, 5. 81

[10] Geißler, Rolf: Der Roman im Unterricht; in: Wolfrum, Erich (Hrsg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts; Esslingen: Burgbücherei 1972, 5. 323 ff. Bemerkenswert erscheint,  dass in späteren Ausgaben des zitierten Taschenbuchs der m. E. immer noch „gültige“ Artikel Geißlers ersetzt wurde durch in ihrer Tendenz auf Erlebnispädagogik abzielende Texte.

 

[11] Geißler: „Literatur ... liefert Simulationsmodelle für den Erkenntnisprozeß.“ (S. 327)

 

[12] Kaiser, Gerhard, a.a.O., 5. 95

[13] Wangerin, Wolfgang, a.a.O., 5. 590

[14] Es versteht sich von selbst, dass auch ästhetische Momente als historische Größen zu sehen sind und nur in ihren historischen Bezugsfeldern angemessen gewürdigt bzw.  „verstanden“ werden können.

 

[15] In jedem Fall aber muss der Text selbst zur Geltung kommen, „sonst vergibt man sich  jede Chance, etwas dazuzulernen.“ (Fritzsche, Joachim: Zur Didaktik und Methodik des Deutschunterrichts, Bd. 3, Ernst Klett Schulbuchverlag, Stuttgart 1994 5. 254)

 

[16] Wangerin, Wolfgang, a. a. 0., 5. 592

[17] Fritzsche, Joachim, a.a.0., S. 141

 

[18] Wangerin, Wolfgang, a.a.0., 5. 584

 

[19] Wangerin, Wolfgang, a.a.0., S. 585

[20] a.a.0.,S.586

[21] Kaiser, Gerhard, a. a. 0., S. 99

 

[22] Wangerin, Wolfgang, a.a.0., 5. 587

 

[23] Munding, Heinz: Existentieller Transfer bei lateinischen Historikern; in: Anregung, Zeit­schrift für Gymnasialpädagogik, Heft 5, 1974, 5. 292—303.

 

[24] 24 Zum hier angesprochenen Zusammenhang siehe auch: Schardt, Friedel: Texttheorie und ästhetischer Text, Schwann Verlag, Düsseldorf 1977

 

[25] vergl. Wangerin, Wolfgang, a. a. 0., S. 594

[26] Fritzsche, Joachim, a.a.0., 5. 165