Literaturdidaktik

 

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...und:

Wir beantworteten die Frage: Wozu noch Literatur lesen? Damit, dass wir über den Abgrund, der zwischen der Erfahrungswelt unserer Schüler, die von der Angestellten- und Medienkultur des 20. Jahrhunderts (und zunehmend auch von außereuropäischen Kulturen) geprägt worden waren, und der in der deutschen Literatur des 18. Und 19. Jahrhunderts geschilderten Höflings- und Bürgerwelt klaffte, inhaltlich Brücken zu schlagen versuchten.

(Thomas Lange: Goldmund und Currywurst. Rückblick eines Deutschlehrers im 25. Jahr seines Dienstes an Sprache und Literatur: DU 1/00 S. 75)

 

Was soll Literatur?

Aut prodesse volunt aut delectare poetae

                        aut simul et iucunda et idonea dicere vitae

 (Entweder die Dichter wollen nützen, oder sie wollen erfreuen, oder aber sie wollen das zur Sprache bringen, was für das Leben zugleich angenehm und nützlich ist.)

(Horaz, ars poetica 11,3)

 

In zwei Zeilen gelingt es Horaz, annähernd alles zu sagen, was zum Thema Literaturdidaktik zu sagen ist. Allerdings macht es gerade die Dichte der Aus­sage notwendig oder doch reizvoll, den einzelnen Aspekten etwas genauer nachzugehen und die jeweils sich ergebenden Konsequenzen (gegebenenfalls auch: Forderungen) auszuformulieren.

Horaz unterscheidet drei mögliche Intentionen, die ein Dichter in seinem Werk verfolgen kann:

 1  Literatur und das „prodesse“

Gehen wir davon aus, dass sich die Intentionen, von denen Horaz spricht, auf den künftigen Leser (und nicht den Autor) konzentrieren, so fällt es nicht ganz leicht, gerade bei fiktionalen Texten einen unmittelbaren „Nutzen“ auszuma­chen. Am einfachsten gelingt wohl der Nachweis des „prodesse“ bei Texten, bei denen a priori mit einem didaktischen Grundtenor zu rechnen ist, d. h. bei Texten, die ihr „fabula docet“ mehr oder weniger geschickt in Beispielge­schichten verpacken, die also gewissermaßen nur um dieser Lehren willen geschrieben wurden. Damit sind nun nicht nur Fabeln oder Kalendergeschich­ten gemeint, sondern auch jene „lebenskundlich“ ausgerichteten Erzählungen, deren Palette vom Struwwelpeter über Robinson Crusoe bis zum Antistruw­welpeter reicht.


 

Schwieriger wird der Nachweis des „prodesse“ bei Texten, deren Lehre oder „Moral“ (Germanisten sprechen lieber von Textaussage, Textintention oder ähnlichem) nicht so offen zutage tritt oder gar bei Texten, die sich gera­dezu sperren, die sich weigern, eine gradlinige Lehre zu erkennen zu geben, Texte also, die von Helden (oder auch: Antihelden) erzählen, die selbst nicht so genau wissen, was sie nun tun sollen, die Fehler machen können und zu ihren Fehlern auch stehen, die sich ändern und Welt um sich verändern, die selbst um Orientierung ringen und bestenfalls am Ende einsehen, wo und wie oft sie sich geirrt haben, ohne freilich genauer sagen zu können, ob das auch wirklich Irrtümer waren und wie sie künftig zu vermeiden sein sollen. Gerade in solchen Fällen setzt dann eine recht mühevolle Interpretation ein, an deren Ende eine u. U. ambivalente Aussage steht, über deren „prodesse“ sich immer noch trefflich streiten lässt. Die Didaktiker aber, unter dem steten Zwang, das prodesse nachweisen zu müssen, sehen sich gezwungen, es irgendwo zu fin­den, wollen sie ihr Tun überhaupt rechtfertigen. Also ist man versucht, das prodesse entweder im Weg (dem mühevollen Interpretieren), oder eben im Streiten (um das mehr oder weniger „richtige“ Ergebnis) selbst zu sehen. Je nach Lager spricht man dann von einer Erweiterung der literarischen Kompe­tenz, von Erziehung zu einer kritischen Rezeptionshaltung, von Erziehung zur Kritikfähigkeit usw. Unter der Hand geraten dabei die Texte selbst in den Bereich des Beliebigen, werden ersetz- und austauschbar, der didaktische Fetisch des „prodesse“ hat alle weiteren Möglichkeiten und Überlegungen überlagert, wobei nicht einmal bedacht wird, worauf sich das prodesse letzt­lich zu richten habe. Bei einer solch einseitigen Verabsolutierung des „Ver­wertungsgedankens“ gerät nicht nur das poetische Werk weitgehend aus dem Blick, sondern auch der Schüler, der an ein Werk herangeführt und zur Aus­einandersetzung mit diesem angeleitet werden soll. Wenn es nur noch (oder auch nur schwerpunktmäßig) um den „Weg“, das Arbeiten an „etwas“ geht, wenn also das Werk austauschbar geworden ist, ist es wohl auch um die Moti­vation seitens der Schüler schlecht bestellt. Wenn es nur oder vornehmlich um Auseinandersetzung geht, wie soll da noch auch nur ein Rest an Faszination zustande kommen? So darf es dann auch nicht verwundern, wenn die Schüler bereits stöhnen, wenn sie auch nur eine etwas längere Erzählung oder gar einen Roman pro Halbjahr lesen sollen (übrigens dieselben Schüler und Schü­lerinnen, die noch in der 5. oder 6. Klasse Bücher geradezu verschlungen haben!).

 

 

2  Literatur und das „delectare“

 

Es ist heute gerade in der „Jugendbuchdidaktik“ üblich geworden, von der „Leselust“ zu sprechen, was auch immer man darunter verstehen mag. Aus ihr, die man ja wecken oder fördern will, leitet man die Forderung ab, die Schüler müssten dort abgeholt werden, wo sie sich befinden, wobei weder ganz klar wird, wie das „Abholen“ nun eigentlich zu verstehen sei, und schon gar nicht, wohin die Schüler schließlich zu führen seien. Nicht selten kommt da der Ver­dacht auf, es gebe überhaupt kein klar auszumachendes Ziel. Lesen „just for fun“ wird zur didaktischen Leitgröße. Das Lesen wird so sehr verselbststän­digt, dass es selbst zum Zweck unterrichtlicher Bemühungen wird. Die „Lese­lust“, das „Lesevergnügen“ stehen dabei im Vordergrund. Man vermeidet es, genauer darüber Rechenschaft zu geben, woraus dieses Vergnügen denn nun resultiert. Natürlich, die Erzähltechnik spielt schon eine gewisse Rolle, ein Autor muss es verstehen, fesselnd, spannend zu erzählen. Am Ende aber orien­tiert sich die Leselust an den verhandelten Inhalten und weniger an mit ästhe­tischen Kategorien beschreibbaren Momenten.

Genau diese Elemente aber sind es, die nach Horaz das „delectare“ bewir­ken. Damit wird deutlich: Lesen muss zwar Spaß machen (ohne einen Rest an solchem Spaß ist wohl kaum eine tragfähige Motivation zu erreichen), aber dieser Spaß ist abhängig von der ästhetischen Potenz des Textes und der ästhe­tischen Wahrnehmungsfähigkeit des Lesers, mit anderen Worten: Ein delec­tare stellt sich nur ein, wenn Sensorium und Lesestoff zueinander „passen“, d. h., wenn die ästhetische Wahrnehmungsfähigkeit des Lesers so weit ausge­bildet ist, dass sie ästhetische Gegenstände auch als solche wahrzunehmen vermag. Sensorium und Stoff sollen zueinander passen und es bleiben da nur zwei Möglichkeiten des Abgleichs: entweder das Sensorium wird an den Stoff angepasst (das ist freilich mit Arbeit verbunden und der Spaß bleibt nicht sel­ten auf der Strecke) oder aber der Stoff wird entsprechend dem vorhandenen Sensorium ausgewählt. Diesen Weg geht in aller Regel die „Abholdidaktik“. Mag sein, dass ein so „gefördertes“ Leseverhalten als Freizeitverhalten erstre­benswert ist. Literaturunterricht insbesondere auf der Sekundarstufe II sollte sich nicht damit zufrieden geben, sondern nach Möglichkeiten suchen, die Wahrnehmungsfähigkeit der Schüler hinsichtlich ästhetischer Gegenstän­de so weit auszubilden, dass auch der „ästhetische Mehrwert“ schwierigerer Gegenstände angemessen genutzt werden kann. (Über das „Wozu“ einer sol­chen Ausbildung wird noch zu sprechen sein.)

Wenn also gefordert wird, Lesen solle „Spaß“ machen, so darf das nicht heißen: Lesen darf nicht anstrengen. Auch Sport strengt an und kann doch Spaß machen. Lesen als intellektuelles Vergnügen fordert einiges an Anstren­gung, ehe sich ein „Vergnügen“ einstellt. Selbst wenn wir nun von einem sol­chen intellektuellen Vergnügen sprechen, bleiben wir uns der Tatsache be­wusst, dass es sich um eine recht einseitige Angelegenheit handelt, die mit der oft beschworenen „Leselust“ nicht viel zu tun hat. Und selbst in der hier zu fordernden (doch schon anspruchsvollen) Version des Vergnügens bleibt dann eine wesentliche Dimension verschlossen, insofern nur ein doch recht schma­les „Fenster“ geöffnet und Inhaltliches in den Blick genommen wird; wichti­ge Teile eines umfassenden Verstehensprozesses, wie etwa eine angemessene ästhetische Rezeption bleiben unberücksichtigt.


3   Das „simul“ als dritte Möglichkeit

 

Horaz bietet eine dritte Position an: Auf den ersten Blick könnte dieses „simul“ als ein „sowohl-als-auch“ ganz im Sinne des klassischen Besin­nungsaufsatzes verstanden werden und als didaktischer Nothelfer einsprin­gen. Ganz so einfach allerdings macht Horaz uns die Sache nicht. Er gibt eine wesentliche Bedingung an für die Gültigkeit des „simul“: Ziel beider Tenden­zen Möglichkeiten (des prodesse wie des delectare) muss das Leben sein und in der Lebenspraxis sind beide aufeinander zu beziehen, miteinander zu ver­binden. M. a. W.: Nicht die Schule, nicht die Fachwissenschaft bilden den letz­ten Bezugspunkt für Literatur und für Arbeit mit literarischen Gegenständen, sondern die Lebenspraxis des Lesers.

Daraus ergeben sich erste Konsequenzen: Prodesse und delectare müssen in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Es geht nicht an, dass das eine dem andern zu- oder gar untergeordnet wird im Sinne einer Setzung: Das „prodesse“ hat dem „delectare“ zu dienen, vergleichbar etwa dem scholasti­schen „philosophia ancilla theologiae“. Wenn dem schon so sein soll: Magd ja, aber nicht die, die den Nachttopf hinterher-, sondern die, die das Licht vor­austrägt!

Andererseits bedeutet das aber auch, dass Anstrengungen in einer vernünf­tigen Relation zum jeweils erzielbaren Ergebnis stehen müssen. Angestrebtes Ergebnis ist ein Verstehen als Resultat hermeneutischer Prozesse. Dabei geht es keineswegs um ein „objektives“, gesichertes Wissen, sondern darum, das „An sich“ eines Textes in ein „Für mich“ (Hegel) umzuwandeln. Allerdings:

Ein solcher hermeneutischer Prozess ist nicht immer reines Vergnügen. Er ist an Voraussetzungen, Bedingungen usw. gebunden, die u. U. erst geschaffen werden müssen. (So müssen gegebenenfalls erst entsprechende „Werkzeuge“ erarbeitet bzw. bereitgestellt werden usw.)

Gleichzeitig aber kann man daraus für die unterrichtliche Arbeit ableiten:

Die strukturanalytische Arbeit hat dienende Funktion, sie ist aber auch zwin­gend notwendig, soll das „prodesse“ nicht zu sehr verkürzt werden. Gerade wenn vom Umgang mit ästhetischen Gegenständen die Rede Ist, sollte man sich davor hüten, das böse Wort von der Verkopfung zu benutzen und rationa­les Arbeiten nicht diskriminieren.

Delectare und prodesse sind im simul miteinander zu verbinden und auf das Leben zu beziehen. Das bedeutet: Das delectare lässt sich kultivieren, verfei­nern und steigern zum intellektuellen Vergnügen, das prodesse und die damit verbundene Anstrengung lässt sich rational durchdringen und motivieren sowohl vom delectare als auch von je erreichbaren Zwecken her. Die konkre­ten Folgerungen, die sich daraus ergeben, liegen auf der Hand: Die Gegen­stände sind so auszuwählen, dass sie als Herausforderung empfunden, als widerständig wahrgenommen werden können. Es sollte immer ein gewisses Maß an „kognitiver Dissonanz“ (Festinger) vorhanden sein, die aus einem


 

„Voraus“ des Textes gegenüber den gegenwärtigen Möglichkeiten, Erwartun­gen und „Ansprüchen“ des Rezipienten resultiert. Sie sollten andererseits dem Schüler in seiner gegenwärtigen Situation schon die Chance des delectare bieten. (Hier mag man meinetwegen von „abholen“ sprechen.) Freilich: Es sei nochmals betont: Das delectare, so weit die Arbeit in der Sekundarstufe II betroffen ist, kann sich nicht auf ein kulinarisches Genießen (im Sinne einer Befriedigung von Bedürfnissen bzw. einer Erfüllung von Erwartungen) be­schränken, ebenso wenig, wie das prodesse in einer vordergründigen Zweck­rationalität aufgehen darf.